Schwermut und Schönheit - selbst auf einer sommerlichen Radtour gehören die beiden in diesem Landstrich traditionell zusammen

Molodzi!" - Donnerwetter. Das Mütterchen vor uns in der Schlange schlägt die Hände zusammen, als sie hört, dass wir nach Moskau wollen. Wir verraten ihr nicht, dass wir nur ausgesuchte Strecken radeln und das letzte Stück mit dem Zug zurücklegen werden. Dafür fehlt uns der Wortschatz. Tatiana, die russische Reiseleiterin, war schon weitergefahren, als wir uns rund 600 Kilometer vor Moskau bei einem fliegenden Händler anstellten, um Bonbons oder Kekse zu besorgen. Wir waren neugierig auf das Sortiment. Brot, eingelegte Heringe und Gurken, Tomaten oder Zigaretten brauchen wir nicht. Eine Zweiliterflasche Kwas für 57 Rubel, umgerechnet 1,30 Euro, nehmen wir mit. Die Brause aus vergorenem Roggenbrot, Zucker und Hefe ist - neben Wodka - das Lieblingsgetränk der Russen.

Gestern noch sind wir in St. Petersburg über den Newskij-Prospekt gebummelt und haben die Paläste, Kuppeln und Zwiebeltürme aus der Zarenzeit bewundert. Heute radeln wir über Land durch stille Dörfer mit Holzhäusern und Sommerblumen hinter Staketenzäunen. Unterhalb der schmalen Asphaltstraße fließt der breite Wolchow.

Die blond gelockte Tatiana Kirsanowa, Deutschlehrerin aus Petrozavodsk, begleitet die Radtour. Guter Geist der Truppe jedoch ist Wladimir Nikolajewitsch Klimantov. Er passt auf, dass wir auf dem rechten Weg bleiben. An jeder Kreuzung wartet er mit dem Bus, damit wir die Abzweigung nicht verpassen. Der Lenin-Wimpel, der hinter seinem Fahrersitz baumelt, ist eine Auszeichnung aus einem früheren Leben, als Wladimir Held der Arbeit in einer Moskauer Schokoladenfabrik war. Am Armaturenbrett kleben drei Bilder von Heiligen, deren Beistand bei den Straßenverhältnissen womöglich vonnöten ist. Wir aber radeln nur auf ausgewählten Abschnitten - auf verkehrsarmen Straßen ohne Schlaglöcher.

Einige Kilometer vor Nowgorod pickt uns der Bus wieder auf. Bei einem Bier auf der Terrasse des "Casa del Mar" am Ufer des Wolchow lassen wir den Tag ausklingen - bis uns die Mücken vertreiben. Das 220 000 Einwohner zählende Weliki Nowgorod, im Jahre 862 von Wikingern gegründet, ist Weltkulturerbe und eine der ältesten Städte Russlands. Im Mittelalter unterhielt die Hanse dort ein eigenes Kontor, der Handel florierte. 1478 verleibte Iwan III. die reiche Stadt dem Großfürstentum Moskau ein. Als 1703 mit St. Petersburg ein Fenster zum Westen geöffnet wurde und der Zugang zur Ostsee die Handelswege verkürzte, verlor Nowgorod an Bedeutung. Vom einstigen Wohlstand zeugen der Kreml und die vielen Kirchen. Allerdings standen von den einst 300 Gotteshäusern nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch 50. Am Wolchow verlief die Front, die Stadt wurde zu 96 Prozent zerstört. Gleich nach Ende des Großen Vaterländischen Krieges sei mit dem Wiederaufbau begonnen worden, fügt die Stadtführerin hinzu. Die schönste Kirche ist die von fünf Kuppeln gekrönte Sophienkathedrale aus dem 11. Jahrhundert. Ihre prächtig verzierte Bronzetür wurde in Magdeburg gegossen. Vor der Ikonostase zünden Gläubige Kerzen an und gedenken ihrer Lieben. In der orthodoxen Kirche sei immer die linke Seite der Bilderwand für die Verstorbenen reserviert, erklärt Tatiana. Als wir anderntags vor einem Friedhof halten, macht sie uns mit weiteren Gepflogenheiten des russischen Alltags vertraut. Innerhalb einer umzäunten Grabstelle hält eine Frau Zwiesprache mit einem Verstorbenen, auf dem Tischchen vor ihr eine Flasche Wodka. Es sei üblich, dem Toten mitzubringen, was er im Leben gernhatte, sagt Tatiana. Allerdings sei die Seele nur zwischen 6 und 12 Uhr anwesend. Auf den Friedhöfen ist vormittags am meisten Betrieb.

Wir radeln durch Wälder und Wiesen. Am Ufer des Ilmensees besuchen wir ein Freilichtmuseum, übernachten in Staraja Russa, wo Fjodor Dostojewski ein Sommerhäuschen besaß. In Demjansk, 100 Kilometer südöstlich von Nowgorod, genießen wir Essen nach altrussischen Rezepten und stoßen mit Wodka an. Na sdarowje! In dem kleinen Ort mit seinen farbenfrohen Holzhäusern erinnert nichts mehr an das Leid während des Zweiten Weltkrieges. In der fast fünfmonatigen Kesselschlacht wurde Demjansk vollständig zerstört. Die Siedlung hat kaum mehr als 5000 Einwohner. Zum Zeitpunkt der Besatzung durch die Wehrmacht lebten hier noch 19 000 Menschen.

Die russische Provinz ist verwaist. Junge Familien ziehen in die Stadt, wo es Arbeit gibt. In den Dörfern bleiben vor allem alte Leute. Die Babuschka mit Kopftuch und Kittel, die im Kartoffelfeld ackert, das Gemüsebeet pflegt, die Kuh melkt. Mit einer Rente von umgerechnet 90 bis 120 Euro im Monat müssen die alten Leute vor allem von dem leben, was sie anbauen, erzählt Tatiana.

Die "Isbas", wie die mit Schnitzereien verzierten alten Holzhäuser heißen, stehen bei Moskowitern hoch im Kurs. Seit Peter der Große seine Höflinge mit einer Datscha belohnte, verlangt die russische Seele nach einem Häuschen im Grünen. Putins Datscha am Waldai-See sprengt allerdings die Dimensionen. In dem Neubau hätte eine ganze Garnison Platz. Klosterbruder Sergi, der uns durch das Iwerskij-Kloster führt, ist jedenfalls froh über den berühmten Nachbarn, der für finanzielle Hilfe sorgt. Es ist Sonntag, und viele Gläubige sind gekommen, die Ikone der wundertätigen Gottesmutter zu küssen. Im Refektorium sind die Tische gedeckt. Lediglich eine milde Gabe wird für das Mittagessen erwartet.

Die Waldaihöhen auf halber Strecke zwischen St. Petersburg und Moskau bilden das Herz Russlands. Einst sollen die Wälder, Sümpfe und Seen die Tataren an der Einnahme Nowgorods gehindert haben. Beim Lagerfeuer am See kommt die große Flasche Kwas wieder zum Vorschein. Der rote Himmel der untergehenden Sonne spiegelt sich im Wasser und unterstreicht die unendliche Weite Russlands. Wir ahnen, dass die Megacity Moskau uns ziemlich eng vorkommen wird.