Das wohl schönste Segelrevier der Welt und der Komfort einer Kreuzfahrt - auf der weißen Dreimastbark passt das zusammen.

Sie haben sich alle den Wecker auf 8 Uhr gestellt. Das ist auf mancher Spaß-Kreuzfahrt mitten in der Nacht. Aber hier sind die Passagiere zu früher Stunde vollzählig auf dem Sonnendeck versammelt. Dieser Moment ist es, der die ganze Faszination der "Sea Cloud II" ausmacht. Vor allem deshalb sind sie an Bord, die neunzig Gäste dieser Karibik-Kreuzfahrt. Endlich greift sich Kapitän Evgeny Nemerzhitsky sein Walkie-Talkie und gibt das Kommando, auf das alle warten: "Set sail!" Hoch oben im vorderen Fock- und im mittleren Großmast lösen die Matrosen die Schlaufen. In atemberaubender Höhe von 50 Metern, angeseilt wie die Bergsteiger in der Eiger-Nordwand. Und dann bekommen die drei kahlen Masten der Bark ihr weißes Kleid: Die "Sea Cloud II" steht unter vollen Segeln. Mitten im karibischen Meer, einem der schönsten Segelreviere der Welt. Wie an einer Perlenkette sind hier die kleinen Antillen aneinandergereiht: Canouan Island, Bequia, Anguilla - so heißen die schönsten Perlen dieser Tour. Hier segelte Ende des 15. Jahrhunderts Columbus in der irrigen Annahme, er hätte Westindien erreicht. Daher auch heute noch der Name "westindische Inseln".

Gerade in der europäisch-kalten Jahreszeit ist die Karibik die Kreuzfahrt-Destination schlechthin. Anfang Dezember, wenn die Hurricanes sich ausgetobt haben, dann schicken vor allem die amerikanischen Reedereien ihre schwimmenden Städte zu den Inseln. Nach St. Lucia, Sint Maarten oder Antigua. Also dorthin, wo die Goliath-Schiffe überhaupt noch festmachen können. Die "Sea Cloud II" fährt einen anderen Kurs, sie wirft den Anker dort, wo es für die großen Liner weder Liege- noch Ankerplätze gibt. Zum Beispiel in der Bucht von Soufrière direkt vor den beiden Pitons, den berühmten Bergkegeln von St. Lucia. Mit Tenderbooten werden die Passagiere hinübergeshuttelt. Oder es geht mit Schlauchbooten zu einsamen Stränden, die nur auf dem Wasserweg erreichbar sind. Bei einem Schiff mit 3000 Passagieren undenkbar. Das hat zwar zehn Restaurants, eine Shoppingmeile und einen weitläufigen Wellnessbereich. Aber das vermisst auf der "Sea Cloud II" niemand, hängen doch auf diesem Windjammer 2800 m² Segelfläche an den drei Masten. Das ist Entertainment, denn ein Theater fehlt hier ebenso wie eine Bord-Diskothek. Dafür gibt es für alle Interessierten nautische Nachhilfe bei Thomas Darlington, dem ersten Offizier an Bord. Alle 24 Segel haben einen Namen, ob "Außen Klüver" oder "Groß Untermars". Und der Seemann kennt sie alle. Die Takelage ist ein Gesamtkunstwerk, das die meisten dann doch mehr in der Praxis fasziniert. Wer sich dennoch in die Mast-Materie vertiefen will, findet sein "Fachgespräch" auf der Brücke. Die ist für alle Passagiere offen. Ausnahme: bei einem Segelmanöver. Denn das ist auf der "Sea Cloud II" noch echte Handarbeit, die kein Joystick oder Knopfdruck erledigen kann.

Segeln wie es um 1900 noch üblich war, so die Grundidee beim Bau der Dreimastbark. Vorbild war das Schwesterschiff "Sea Cloud", auch ein echter Rahsegler, der 1931 in Kiel gebaut wurde. 70 Jahre später, am 6. Februar 2001 wurde die "Sea Cloud II" nach dreijähriger Bauzeit in Las Palmas auf Gran Canaria getauft. Seitdem hatte sie immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel und hat so manchen Sturm überstanden.

Heute bläst der Wind mit Stärke fünf - das ideale Segelwetter, der Kapitän ist in seinem Element. Flaute dagegen in der Praxis von Dr. Heiko Bienengräber. Kaum jemand lässt sich in der Sprechstunde des Bordarztes blicken, einige Passagiere haben ein präventives Pflaster hinterm Ohr - das war's. Seekrankheit? Fehlanzeige. Zumindest auf diesem Törn. Vielleicht liegt es auch an den üppigen Mahlzeiten. Die beginnen bereits um sechs Uhr für die Frühaufsteher mit den ersten Schnittchen, Gepäck, Tee und Kaffee auf dem Lido-Deck. Hier endet auch der kulinarische Karibik-Tag mit dem Mitternachtssnack. Dazwischen: Frühstücksbüfett, Themen-Büfett am Mittag, Happy-Hour-Happen, Abendmenu. Da darf es dann etwas feiner sein, ansonsten ist das Bord-Outfit gepflegt sportlich-maritim.

Dresscode Bermuda-Shorts und buntes Hemd beim Beach-Barbecue. Dazu tendert die Küchen-Crew die halbe Bordküche an den Strand der Insel Nevis. Bei gegrillten Garnelen, Rum-Punch und den Klängen von Reggae-Musik ist der Sonnenuntergang noch schöner als auf dem Lido-Deck. Dort ist der angestammte Platz von Gaynor Trammer. An ihrem kleinen Piano sitzt die Amerikanerin hinter der Bar und untermalt die blaue Stunde mit "As Time Goes By" und anderen Klassikern aus ihrem Repertoire von 1500 Stücken. Unaufdringliche Bordunterhaltung, die an dem einen oder anderen Abend durchaus etwas karibischer sein könnte. Vor allem auf dem Lido-Deck spielt sich das Leben ab.

Das Interieur an Bord ist klassisch-maritim, das heißt: viel Messing und Mahagoni. Äußerst ästhetisch auch die 47 Kabinen, die mit Marmor-Bädern ausgestattet sind. Wer Sport treiben will, der kann den kleinen Sauna- und Fitnessbereich auf dem Kabinendeck nutzen. Meist sind die Räume verwaist, denn ein Aufguss vor Antigua wirkt klimatisch komisch. Willkommen hingegen das größte Freibad der Karibik: An der Steuerbordseite der "Sea Cloud II" lässt sich eine Badeplattform hinunterklappen. Baden vor Bequia - das ist ein ganz besonderer Frühsport.

Die Abende an Deck sind entspannt und relaxt. Aber einmal während des Törns entert die Crew das Entertainment: Dann hat der bordeigene Shanty-Chor seinen Auftritt. "I am Sailing" oder "Hamburger Veermaster" werden vielstimmig über die Planken geschmettert. Ohne Zugaben kommt die Besatzung nie davon. Aber dann schickt sie Chorleiter Vasile doch in die Kojen. Morgen früh müssen die Matrosen wieder in den Mast. Denn um neun Uhr steht im Tagesprogramm wieder ganz großer Sport an: "Set sail". Später ankern vor St. Barth, der cleansten aller Karibik-Inseln.

Dort findet die "St. Barths Bucket Regatta" statt. Ein Segelevent, bei dem rund eine Milliarde Euro im Wasser schwimmt. Und mittendrin ankert die "Seacloud II". Nur die "Maltese Falcon" zieht noch mehr Blicke auf sich. Ein Hightech-Segler, der allein 100 Millionen Euro kostet und fast nur noch mit der Computer-Maus bedient wird. Aber die Passagiere hier sind sich einig: lieber die "Sea Cloud" als ein digitaler Dreimaster. Dafür stellen sie auch gerne den Wecker auf 8 Uhr.