Die Hauptstadt Tunesiens gibt sich in Teilen westlicher als vermutet. Klein-Paris und tiefster Orient, Schleier und Minirock: Die Metropole spiegelt den Zustand des Landes. Nur wenige Touristen zieht es bislang hierher.

Ben Ali ist immer schon da. Hand aufs Herz steht er vor der Französischen Kathedrale an der Avenue Habib Bourguiba und begutachtet jeden, der vorbeikommt. Auch am Eingang zur Medina blickt er den Besuchern tief in die Augen. An den großen Kreuzungen der Hauptstadt hat er Stellung bezogen, und manchmal blinzelt er im Großformat von den Fassaden der Hochhäuser. Unwillkürlich fängt man an zu zählen. Und spätestens beim XXL-Plakat Nummer fünf wird man das Gefühl nicht los, die freundlich dreinblickenden Augen des Monsieur Ben Ali könnten eventuell auch etwas anderes im Sinn haben ...

Wer ist dieser Zine el-Abidine Ben Ali? Tunesiens Staatsoberhaupt, und das schon seit 23 Jahren! Erst im Oktober wurde er mit 89,28 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Ernstzunehmende Gegenkandidaten gab es naürlich nicht, denn denen wird schon vor so einer "Wahl" (zumindest politisch) der Garaus gemacht.

Von diesen innenpolitischen Seltsamkeiten, denen das Land mindestens das umgangssprachliche Prädikat "Regime" verdankt, merken Touristen in Tunesien nichts. Nicht mal in Tunis. Aber Tunis merkt auch nichts von den Touristen, die ansonsten die Sonnenküsten des nordafrikanischen Landes fest in ihrer Hand haben. Die machen nämlich einen großen Bogen um die weiße Metropole am Meer - und das völlig zu Unrecht. Nur hin und wieder verirren sich Tagesausflügler aus der Touristenhochburg Hammamet in die Hauptstadt. Was sie nicht verdient hat, denn die 900 000-Einwohner-Metropole ist eine echte Überraschung, ein Minikosmos zwischen Orient und Okzident.

Wer vom Taxi an der Avenue Habib Bourguiba ausgespuckt wird, landet mitten in Klein-Paris: Auf dem breiten "Laufsteg" der Stadt flanieren zwischen frühlingsgrünen Baumreihen gut gelaunte, junge Frauen mit großen Sonnenbrillen und Overknee-Stiefeln neben alten Männern mit knappen Filzkappen. Die Cafés haben ihre Bistro-Flechtstühle nach draußen auf die Bürgersteige gestellt. Schwarz livrierte Kellner balancieren Tassen mit Café crème auf Silbertabletts zu den Tischen. Jugendstilfassaden strahlen frisch gestrichen im Sonnenlicht - eine süße Leichtigkeit liegt in der Luft. Art-Déco-Dekor, Bistrokultur wie auch die Französische Kathedrale haben die Franzosen damals "mitgebracht", als sie 1881 das Land besetzten.

Nur 300 Schritte weiter beginnt der Orient: Da steht plötzlich wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit ein uraltes Stadttor, die Porte de France, auf einem großen Platz. Und dahinter startet ein aufregendes Abenteuer: die Altstadt von Tunis. Die Straßen werden jetzt zu engen Gassen, zu denen sich dicht an dicht die Läden öffnen. An der Rue Jamaa Zitouna, die Richtung Große Moschee führt, hängen die Ledertaschen, Teppiche und Messingschalen so nah, dass man sie beim Vorbeigehen mit den Schultern streift: Souvenirs für Touristen, die keinen Einheimischen interessieren. Man muss schon tiefer in das Labyrinth der Altstadt eindringen, um die eigentliche Medina, die Seele von Tunis, zu finden.

Bald zweigt eine kleine, überdachte Straße mit Brautmoden ab, in einer anderen haben die Hutmacher ihr Domizil. Sie fertigen die traditionellen "Chechias", die schwarzen und roten Filzkappen, die hier noch oft von den alten Männern getragen werden. Ein ganzer Souk ist für die Juweliere reserviert. An den kleinen Schaufenstern kleben Trauben von jungen Frauen. Dazwischen fangen immer wieder große Holztore mit prächtigen Schnitzereien den Blick, sie öffnen sich zu Bibliotheken oder Privatpalästen. Manchmal versteckt sich dahinter auch ein öffentlicher Hammam oder ein Restaurant. In den Cafés sitzen ausschließlich Männer. Sie rauchen Wasserpfeife und nippen an ihren Teegläsern. Im nächsten Souk stapeln sich die Stoffballen in den Läden, dann öffnet sich wieder ein Platz mit einer Moschee.

Tunis' Altstadt ist keine aufgerüschte Attrappe für Touristen. Hier wird gelebt und geliebt, gebetet und gegessen - und natürlich gehandelt. Jeder Kauf ist eine Zeremonie des Feilschens. Wenn diese Prozedur für alle Seiten befriedigend zu Ende gebracht ist, gibt es ein Glas heißen, süßen Minztee.

"Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas", sagt im Vorübergehen im akzentfreiem Deutsch ein graumelierter Herr im leichten Anzug und eilt uns voraus durch das Gassengewirr. Plötzlich bleibt er vor einem großen, hell ausgeleuchteten Teppichladen stehen und wechselt ein paar Worte Arabisch mit dem Besitzer. Der nickt kurz und führt uns dann schweigend die steinernen Treppen seines Altstadthauses hinauf, hinaus aufs Dach. Da bekommt Tunis plötzlich noch eine andere Dimension. Von der Enge des Gassengewirrs hinauf in die Weite unter einem blassblauen Himmel, der sich über die Dachlandschaft mit Höfen und Dachgärten, Satellitenschüsseln, Minaretten und im Wind flatternder Wäsche zieht. Am Horizont zeichnet sich vage das Meer ab. Der Hausherr zeigt mit dem Finger in diese Richtung: "Karthago!"

Am nächsten Tag wird der Tee auf der Terrasse der "Villa Didon" serviert: Das weiße Boutiquehotel mit seinen zehn minimalistisch eingerichteten Zimmern liegt hoch auf dem Byra-Hügel oberhalb des alten Karthagos. Ein krasser Gegen-pol zum Altstadtgemenge von Tunis. Gepflegte Gärten und Parks, Villen die sich dezent hinter Eukalyptusbäumen verbergen - Karthago ist der Nobelvorort der Hauptstadt. Zwischen den Punischen Häfen und anderen archäologischen Ausgrabungsstätten haben sich hier die Reichen aus Tunis angesiedelt. Auch der Präsidentenpalast nimmt viel Platz ein. Die "Villa Didon" thront dort oben wie ein Ausrufezeichen aus einer anderen Welt. Nachts ist hier immer etwas los: Das Hotel ist so etwas wie die Bühne der Schicken und Reichen.

Nur einen Ort weiter, in Sidi Bou Said, wird auch gefeiert. In dem maurischen Bilderbuchdorf, das sich mit seinen weißen Häusern mit den blauen Türen und Fensterrahmen den Hang hinaufstapelt, sind viele der alten Villen in Cafés und Restaurants verwandelt worden. Im Frühjahr 1914 verbrachten hier drei befreundete Maler ihre Ferien: Paul Klee, August Macke und Louis Moilliet. Sie malten das Dorf, machten es damit unsterblich - und weltberühmt.

Jetzt im Frühling verstopfen noch nicht so viele Tagesausflügler die engen Gassen. Die Kellner sind freundlich, das Essen ist gut, und wenn die Sonne untergeht, funkelt hinten am Horizont Tunis im blassrosa Licht. Bis hierhin haben sich seltsamerweise die Plakate von Ben Ali noch nicht verirrt.