Lehmdörfer, alte Häuptlinge und das Orakel der Süßwasserkrabben: Eine Trekkingtour durch den Nordwesten des afrikanischen Landes konfrontiert den Besucher mit einer Welt, die ihre ursprünglichen Rituale noch pflegt.

Der Wahrsager von Rhumsiki ist ein alter Mann mit gestutztem Graubart. Er trägt ein langes erdfarbenes Hemd und auf dem kahlen Schädel eine nach hinten geschobene Zipfelmütze. Das "Krabbenorakel" wird er auch genannt. Er hockt am Boden neben einer Kalebassenschale, die mit feuchtem Sand gefüllt ist. Im Sand stecken Holzstäbchen und Tonscherben, die eine symbolische Bedeutung haben. Der Wahrsager hebt eine lebende Süßwasserkrabbe aus einem Wasserkrug, er spricht zu ihr, er spuckt auf die Krabbe und bittet sie, bei den Fremden für gute Antworten zu sorgen.

Einer der Besucher fragt, ob er von seinem Krebs genesen wird. Der Medizinmann setzt die Krabbe in die Kalebassenschale und deckt sie zu. Eine Minute Stille, dann öffnet er die Schale, betrachtet die Lage der Holz- und Tonstückchen sowie die Position der Krabbe und deutet daraus die Antwort auf die Frage des Fremden - eine ermutigende Antwort. Beim Abschied segnet er jeden, indem er die Schuhe mit Wasser aus dem Krabbenkrug bespritzt.

Das Dorf Rhumsiki im Nordwesten Kameruns liegt mehr als 1000 Meter hoch in den Mándara-Bergen, umgeben von bizarr aufragenden Felsnadeln aus erkalteter Lava. Es ist die Heimat der Kapsiki, Anhänger eines traditionellen Geister-Glaubens und Ahnenkults, die einst in den Felsen Schutz vor den islamischen Reiterscharen der Fulbe-Nomaden suchten. "Doch mit ihren Pferden schafften es die Fulbe nicht, die Berge zu erklimmen", erzählt Bauer Charles aus Rhumsiki. Deshalb seien die meisten Bewohner der zwölf Dörfer dieser Gegend Animisten geblieben. Ihre Lehmhütten schmiegen sich fast unsichtbar an karge Berghänge, nur fünf Kilometer von der nigerianischen Grenze entfernt.

Früh am Morgen sind wir zu einem dreitägigen Trekking aufgebrochen, sechs Deutsche und drei Schweizer, unterwegs mit Tour-Guide Dabala Dji. Esel und Träger transportieren Zelte, Vorräte, Küchenutensilien und Wasser. Halbwüchsige Jungen laufen hinter uns her, streiten darum, unsere Tagesrucksäcke tragen zu dürfen. An der Spitze geht Charles. Er hat sich für die Tour fein gemacht: Hose, Jacke und Schirmmütze ganz in Weiß. Wie Mitte zwanzig sieht er aus, ist aber schon 37 und hat fünf Kinder.

Es ist sengend heiß geworden. Wir kommen an Feldern mit roter und weißer Hirse vorbei, dem Grundnahrungsmittel; an Erdnussfeldern, Maisfeldern, Süßkartoffeln, Guinea-Rosen. Auf allen Feldern arbeiten nur die Frauen, ihre Kleinkinder um sie herum, oft ein Baby auf dem Rücken. Manchmal sieht man einen Mann am Rande des Feldes unter einem Baum dösen. Frauen kochen. Frauen holen Wasser. Frauen zerstampfen Hirse und Bohnen. Vor einem Gehöft aus mehreren Lehmhütten schlagen vier Frauen in bunten Kleidern gemeinsam die Körner von Maiskolben aus. Die Kapsiki leben in Polygamie.

Im Dorf Rufta begrüßt uns der Clanchef eines großen traditionellen Gehöfts. Sein Name ist Dellevoi. Er sitzt unter einem knorrigen Baobab, einem Affenbrotbaum, in dem Kuhreiher nisten. Der Chief trägt einen fleckigen ärmellosen Kittel und ein rot gemustertes Käppi. Wenn er lacht, sieht man über dem grauen Kinnbart seine stumpfen abgekauten Zähne. Er sei 78 Jahre alt und habe fünf Frauen, übersetzt Dabala. Über die Zahl seiner Kinder wird länger diskutiert; man kommt auf "etwa 16".

Das Gehöft ist von einer hohen Mauer umgeben. 23 runde Lehmhütten mit spitzen Strohdächern zählen wir. Es gibt eine Hütte für den Clanchef, eine Hütte für die ganze Familie, Hütten für die Frauen, in der Mitte mehrere hohe Lehmspeicher, die mit einem korbähnlichen Deckel verschlossen werden. Einer der Bewohner demonstriert, wie man von oben in die enge runde Öffnung des Speichers hinabsteigt. Im Gehöft ist keine Frau zu sehen, sie arbeiten auf den Feldern.

Mittagspicknick in dem mit Strohmatten abgedeckten Marktstand des Dorfes Gova. Einmal in der Woche ist Markttag. Es wird gegessen, getrunken, geschwatzt, gehandelt. Unser Koch Bernard serviert uns seinen Salat inmitten des ganzen Trubels, während die vier Esel friedlich grasen. Jacques, der Gehilfe des Kochs, kommt mit einer Kalebassenschale Hirsebier, damit wir das traditionelle Getränk probieren. Es schmeckt erfrischend säuerlich.

In der brütenden Nachmittagshitze geht es weiter. Einen steilen, gerölligen Pfad hinauf und auf rutschigem, trockenen Gras wieder hinunter. Jacques trägt jetzt auf Rücken und Brust zwei unserer Tagesrucksäcke. Auf Französisch erzählt er, dass er 17 Geschwister hat. Auch sein Vater, ein Bauer, hat vier Frauen. Jacques, 27, ist der drittälteste Sohn. Er hat seinen Bachelor in Tiermedizin gemacht, aber keine Arbeit gefunden. Unterwegs versucht Jacques, englische Wörter zu lernen und schleppt ein enorm dickes Lexikon mit sich herum. Ist er verheiratet? Noch nicht, sagt er, aber seine Freundin und er haben schon ein Baby.

Plötzlich stockt die Gruppe vor uns. Einer der Träger hat auf dem Pfad die gefährlichste Giftschlange Afrikas entdeckt, eine Schwarze Mamba. Er hat sie mit einem Stock erschlagen. Beklommen betrachten wir das tote Schuppentier. Seine Haut ist gar nicht schwarz, sondern grau.

Die Sonne steht schon tief, als wir die Katholische Mission Saint Paul de Hila am Rande eines Dorfes erreichen. Auf dem kleinen Vorplatz werden dicht beieinander unsere Zelte aufgeschlagen. Jeder erhält eine Schale Wasser. Während der Abendtoilette strömt das halbe Dorf zusammen und schaut den Fremden beim Waschen, Zähneputzen und Umkleiden zu, als wär's eine spannende Filmvorführung. Kurz nach sechs bricht abrupt die Dunkelheit herein. Mit unseren Stirnlampen sitzen wir am Klapptisch, löffeln Bernards Suppe und danach Spaghetti mit einer Fleisch-Gemüse-Soße. Dabala hat zwei Nachtwächter engagiert: Der eine im löchrigen Sweatshirt hat seine gestreifte Pudelmütze tief ins Gesicht gezogen; der andere ist in einen Kapuzenumhang gehüllt. Nachts wird im Chor geschnarcht.

Bei unserm letzten Trekking-Picknick unter einem Tamarindenbaum rennen von irgendwoher über 50 Kinder herbei, viele in zu großen Altkleider-Sweatshirts aus Europa. Hungrig machen sie sich über unsere Essensreste her. Dabala zelebriert eine Schulstunde. Wie heißt der Präsident von Kamerun? - Paul Biya. - Wie heißt unser größter Fußballspieler? - Sami Eto'o Fils. - Wer kennt unsere Nationalhymne? Und die Kinder schmettern los.

Dabala will ihnen vermitteln, wie wichtig es sei zu lernen. Auch er ist Kapsiki, in den Mándara-Bergen geboren und aufgewachsen mit neun Geschwistern.

Als Kind hatte er das Glück, von einer Schweizerin gefördert zu werden, die für ihn jahrelang Schulgeld bezahlte. Er verbrachte einige Jahre in Europa, kehrte zurück und hat den Ehrgeiz, eines Tages in Kameruns Parlament gewählt zu werden.

Gegen Abend, als wir nach Rhumsiki zurückkehren, spazieren wir zu einem der umliegenden Hügel hinauf. Auf einem Plateau, vor der Kulisse spitz aufragender Felsen, treffen sich die Dorfbewohner in wilder Kostümierung zu einem rituellen Tanz. Wir sind die einzigen Fremden. Ein rötliches Licht liegt über dem Platz. Die Augen der Tänzerinnen und Tänzer glänzen.

Und während die Sonne hinter den magischen Bergzacken versinkt, holen sie uns zum letzten Tanz, damit wir ihre unbändige Fröhlichkeit mit ihnen teilen.