Die Metropole am Bosporus steht in diesem Jahr im besonderen Fokus. Das hat die dortige Künstlerszene aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen lassen.

Kemal Basmaci war ein Schnösel aus reichem Hause, der sich in die schöne Tochter entfernter Verwandter, Tante Nesibes und Onkel Tariks, verliebte. Die bewachten ihr Kind wie ein kostbares Schmuckstück. In seinem Liebeswahn stieg Kemal an 1593 Tagen die steil gewundene Dalgic-Straße hinauf, um die Abende mit der angebeteten Füsun im Beisein von deren Eltern zu verbringen. Man aß gemeinsam, sprach über Nachbarn, die Arbeit, dann wurde der Fernseher eingeschaltet. Zwischen Kemal und Füsun gab es nur Blicke.

Da kam Kemal auf die Idee, jeden Abend etwas mitgehen zu lassen. Eine Tasse, aus der Füsun getrunken, einen Teller, von dem sie gegessen, eine Serviette, die sie benutzt hatte, einen Kamm aus ihrem Haar, eine Brosche, die auf ihrer Haut gelegen hatte. Kemal roch daran, träumte sich in ein Leben zu zweit, bis er sich ein Depot an Gegenständen zusammengestohlen hatte, sein "Museum der Unschuld".

Das ist der Titel des Romans des türkischen Literaturnobelpreisträgers von 2006, Orhan Pamuk. Man sagt, dass er mit dem Buch eine eigene frühe Liebesgeschichte aufgearbeitet habe. Pamuk will im Herbst sein Museum in der Dalgic-Straße 2 eröffnen, in dem Haus, in dem Füsun nach sieben Jahren und zehn Monaten Kemals Werben nachgab, sich mit ihm verlobte und eine Reise nach Europa antrat. Kemal ließ sie seinen Chevrolet steuern, und gleich hinter der Stadtgrenze fuhr Füsun ihn gegen einen Baum - sie starb an den Folgen des Unfalls. Der Schmerz über die endlich erlangte und gleich wieder verlorene Liebe war so groß, dass Kemal sich dazu entschloss, mit den Objekten seiner Leidenschaft ein Museum zu eröffnen. Bald wird Pamuks Buch sozusagen begehbar sein, es ist dann 180 Quadratmeter groß.

Das "Museum der Unschuld" befindet sich im kleinen Stadtteil Cukurcuma nahe dem zentralen Taksimplatz. Orhan Pamuk wollte es im Mai eröffnen, im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres, aber es gab Ärger. 350 000 Euro Fördergeld hatte er erhalten, viele gönnten ihm das nicht. Sie sagten ihm, der seinen Landsleuten mit seinen Büchern immer neu den Spiegel vorhält, nach, er bereichere sich. Im Februar hat Pamuk Konsequenzen gezogen, sich aus dem offiziellen Programm ausgeklinkt und das Geld zurückgezahlt. Er finanziert sein Museum, das "Alltagsleben seit 1950" zeigen will, durch eine Stiftung. Für Istanbul ein Imageschaden, aber der Autor hält an seinem Erinnerungshaus mit dem schiefen Dach fest. Ein solches Liebesmuseum gibt es nirgendwo auf der Welt.

Schon jetzt kommen Touristen mit Pamuks Buch im Rucksack und halten Andacht vor der Fassade. Innen viel Nippes in Vitrinen, auch Hausrat und praktische Gegenstände, dazu Lippenstifte, Tüchlein, Kleider, winzige Damenschuhe. Cukurcuma ist das letzte Viertel in Istanbul, das noch so ist wie im Roman beschrieben. Am Morgen wecken Zigeuner die Einwohner mit einem Trommelkonzert, die Stimme des Muezzin scheppert vom Minarett, Bauchladenverkäufer gellen durch die Gassen. Es gibt Läden der Krämer, Gemüsehändler, Schlachter, Frauen unterhalten sich vor den Häusern. Ein nostalgischer Ort im modernen Istanbul, leider seit Kurzem ohne Kopfsteinpflaster - durch Verbundsteine ersetzt.

Istanbul feiert sich 2010 als Europas Kulturstadt. Der größere Teil der Stadt aber liegt auf asiatischer Seite. Zwei Cent pro Liter Benzin fließen ins Budget. Insgesamt werden es rund 270 Millionen Euro sein, zwei Drittel davon wurden in Infrastruktur und Denkmale gesteckt. Die berühmte Hagia Sophia, einst christliche Kirche, dann Moschee, nun Museum, erhielt einen Teil, der legendäre Topkapi-Palast der Sultane mit ihren Haremshäusern und andere Bauten des Altertums ebenso. Man geht davon aus, dass die meisten Reisenden diese Anlagen sehen wollen und präsentiert sie in gutem Zustand.

Mit der Pflege des Weltkulturerbes sind die Istanbuler Behörden auf der sicheren Seite, unsicher dagegen ist die Unterstützung der hiesigen Künstlerszene. Selbst Kulturhauptstadtfunktionäre fremdeln bei jungen Wilden, die Kunst als Provokation sehen. Die völlige Darstellung von Nacktheit etwa oder abstrakter Kunst ist umstritten. Finanziert werden die Künstler seit einigen Jahren von vermögenden Mäzenen, Banken und Konzernen, die so Modernität demonstrieren. Die Stadtväter setzen eher auf spektakuläre Events - so eine Sinfonie von Arvo Pärt in der Hagia Sophia und eine Performance nach Pina Bausch in der Oper - als auf nachhaltige Kulturförderung. Private sorgen dafür, dass in Istanbul ein Kunstmarkt entsteht, mit Sammlern, Sponsoren, Galerien. Und einer Atmosphäre, die auch Kunstschaffende anderer Nationen anlockt. Wie die Kunststiftung Nordrhein-Westfalen, die mitten in der Altstadt das "Atelier Galata" betreibt, ein Künstlerhaus, in dem junge deutsche Stipendiaten bis zu sechs Monate leben und mit türkischen Künstlern zusammenarbeiten.

Das Highlight ist "Istanbul Modern", ein in einer ehemaligen Lagerhalle untergebrachtes Kunstmuseum am Pier von Karaköy, gestiftet von der Unternehmerfamilie Eczacibasi. In der Lobby stimmt eine von Schüssen zersiebte Panzerglaswand nachdenklich, Pianomusik strömt in die lichterfüllten Räume auf 8000 Quadratmetern. Die Ausstellung ist eher traditionell. Mäzene setzen auf das Alte, Bewährte, wollen gute Geschäfte machen. Jüngst wurde das Gemälde "Symphonie in Blau" von Burhan Dogancay für 1,3 Millionen Euro verkauft - Rekord in der Türkei. Die Location ist großartig. Nach dem Parcours setzt man sich auf Sofas vor raumhohen Glasfenstern, schaut ukrainischen Frachtern auf der Fahrt ins Mittelmeer hinterher und flatternden Möwen zu. Auch im "Sakip Sabanci Museum", benannt nach dem Industriellen, dem es gehört, versucht man zaghaft Annäherung an moderne Kunst. Es gilt schon als großer Erfolg, dass eine Werkschau des armenischen Künstlers Sarkis gezeigt wurde.

Weiter ist man in der Kunststiftung "Platform Garanti", die der Garanti Bank gehört und sich der zeitgenössischen Kunst verschrieben hat. Da werden internationale Künstler und Kuratoren eingeladen. Es gibt Workshops, Ateliers, Themen- und Einzelausstellungen. Auch in der Deutschen Botschaft werden im Sommer deutsche Künstler ausstellen, man ist gespannt, wie das türkische Publikum reagieren wird. Die Regierung zeigt kein erkennbares Interesse. In der 13-Millionen-Metropole gibt es kein einziges Museum für moderne Kunst in öffentlicher Hand.

Immerhin: Im Stadtteil Beyoglu haben neue Galerien geöffnet, multikulturelle Kneipen und Cafés, in denen junge Wilde ausstellen, in Kellerwerkstätten und Synagogen macht sich die subkulturelle Szene breit. In einem Land, in dem die freie Kunst noch demokratisiert wird, ist das ein Anfang. Die Szene ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Zum ersten Mal wird Kunst zwischen zwei Welten gezeigt, auf europäischer und asiatischer Seite. Sogar im Luftraum: Die deutsch-türkische Airline SunExpress, die 20-jähriges Bestehen feiert, ließ von Hamburger Kunststudenten in einem Hangar eine ihrer Boeings knallbunt bemalen - der fliegende Botschafter zwischen der Bosporusmetropole und Europa.