Seit Jahrhunderten wird die Kirschblüte von den Menschen gefeiert. Als Inbegriff von Zartheit, aber auch als ein Sinnbild für die Vergänglichkeit des Lebens.

Tokio steht Kopf in den kommenden Tagen und Wochen. Denn es ist Sakura - Kirschblüte! Millionen Tokioter werden die Gärten und Parks ihrer Stadt stürmen, um sich am Anblick von Kiku-shidare, Shirofugen und Fukubana zu ergötzen: Das sind die Namen japanischer Blütenkirschen, von denen es Dutzende, wenn nicht Hunderte Sorten in ganz Japan gibt. Traditionalisten werfen sich zur Sakura in einen bestickten Kimono, man bejubelt die Blütenpracht mit lauten "Aaahhs" und "Ooohhs", man filmt und fotografiert sie oder posiert selbst vor den Kirschbäumen, um fotografiert oder gefilmt zu werden, allein, mit Nachbarn, mit der Familie, mit Kollegen.

Die Sakura ist ein Massenereignis, das Jung und Alt mobilisiert. Was nicht zu übersehen ist, schließlich sind die Tokioter Grünanlagen, wenn sie ihr rosa Gewand anlegen, schwarz vor Menschen. Zu überhören ist es auch nicht: "Saakuuura, Saakuuura!" schallt es von überall her - das populäre japanische Volkslied scheppert hier aus einem tragbaren Kassettenrekorder, dort wird es von einer Gruppe Seniorinnen angestimmt: "Sakura, sakura, der Frühlingshimmel so weit das Auge reicht, wie Nebel, wie Wolken", singen sie mit Tränen des Glücks in den Augen, "der Duft und die Farben - gehen wir, gehen wir uns am Anblick zu erfreuen!"

Das tun sie auch, die Tokioter, und das ist das erste Problem: Denn gefühlt gehen alle zur gleichen Zeit zum Hanami, zum Blütenschauen. Das zweite Problem: 140 000 Zierkirschbäume soll es in der japanischen Hauptstadt geben - das klingt zwar nach einer Menge, aber die Mega-Metropole hat 34 Millionen Einwohner, also müssen sich statistisch gesehen 245 Tokioter einen Kirschbaum teilen. Kein Wunder also, dass es eng wird in den Grünanlagen, zumal die Blütezeit nur wenige Wochen dauert. Kleiner Trost: Eine Zierkirsche trägt im Durchschnitt 350 000 Blüten, das ergibt 49 Milliarden Blüten - 1441 pro Hauptstadtbewohner.

Wobei Blüte nicht gleich Blüte ist. Ein paar Weißblüher sind darunter, doch die meisten Zierkirschen blühen rosafarben, wobei das Rosa variiert: Babyrosa, Altrosé, Telekompink und Schweinchenrosa - jede Farbvariante ist vertreten, und neben den klassischen einfarbigen Sorten finden sich auch mehrfarbige Züchtungen. Weit verbreitet ist die Somei-Yoshino-Kirsche mit fünfblättrigen Blüten, seltener sind besonders pralle Sorten wie die Chrysanthemen-Kirsche, deren Blüten bis zu hundert Blütenblätter entwickeln können.

Mit Blütengucken allein gibt sich der Japaner allerdings nicht zufrieden. Sakura muss man sich ungefähr so vorstellen wie Karneval in unseren Breiten: es ist ein Volksfest, das zum Abend hin gern in einem kollektiven Massenbesäufnis endet. Man berauscht sich nicht nur an den Blüten, sondern auch an Reiswein - kreisende Sakeflaschen sind fester Bestandteil des Hanami-Rituals. Was zum einen damit zu erklären ist, dass es im Frühjahr, zur Kirschblüte, noch recht kalt ist, der Sake sorgt also für die notwendige innere Wärme. Zum anderen ist der Alltag in Japan von gängelnden Vorschriften und Konventionen geprägt; zur Sakura ist es indes legitim, diese Regeln zu durchbrechen - und das tut der Japaner mit Hingabe.

Man verabredet sich in Gruppen. Wer gut organisiert ist, hat schon am Vormittag einen Verwandten oder Kollegen abgestellt, der in einem besonders schönen Park unter einem besonders schönen Blütenzelt ein besonders schönes Partyrevier abgesteckt hat, mit Picknickdecken, Pappen oder blauer Plastikfolie. Schlägt die Festgesellschaft auf, schlüpft sie aus dem Schuhwerk, das am Rand der Planen ordentlich aufgereiht wird. Im Schneidersitz hockt man sich unter die Bäume und lacht und singt, spielt und umarmt sich, isst und trinkt. Schnell ist eine Sake-Flasche geleert, und dann isst man aus mit rosa Kirschblüten bedruckten Pappschachteln die Sakura-Spezialitäten: Tintenfisch-Teigbällchen, Gemüsepfannkuchen und natürlich Kushi-dango, das sind auf einem Spieß aufgereihte Klößchen aus Reismehl, die mit einer klebrig-süßlichen Paste aus Azukibohnen gegessen werden - in Japan eine Delikatesse.

Gern gereicht werden auch Süßigkeiten, von der rosafarbigen Schokolade über Kirschblüten-Kaugummis bis zu Keksen, gefüllt mit einer säuerlichen, pinkfarbenen Kirschcreme. Aus japanischen Blütenkirschen sind derlei Spezialitäten allerdings nicht hergestellt: Essbare Früchte liefern Japans hochgezüchtete Zierkirschbäume nicht.

Eine Sakura-Sause ist für Gaijin, westliche Besucher, eine gute Gelegenheit, mit den sonst eher zurückhaltenden Einheimischen Kontakt zu bekommen: Einfach irgendwo länger einer Festgesellschaft zugucken und lächeln - es dauert nicht lange, und man wird gestenreich eingeladen, einen Sake zu kosten, vielleicht auch zwei oder drei.

Seit dem siebten Jahrhundert schon wird die Kirschblüte in Nippon verehrt und gefeiert. Sie gilt als Inbegriff von Zartheit und Reinheit, aber auch als Sinnbild der Vergänglichkeit der Schönheit und des Lebens - von einer Sekunde zur nächsten fällt die eben noch perfekte Blüte in sich zusammen und schwebt lautlos zu Boden. Die Symbolik eines solchen plötzlichen, klaglosen Todes in der Blüte des Lebens kommt in Japan gut an, man denke nur an die Samurai und deren Tradition der freiwilligen Selbstentleibung.

Hauptort der Feiern rund um die Kirschblüte ist die Hauptstadt. Im Tokioter Ueno-Park mit gut 1000 Kirschbäumen tummeln sich an einem Sakura-Wochenende etwa 1,5 Millionen Menschen, hier steigt die größte Party im Zeichen der Kirsche. Wild geht es auch zu auf dem Friedhof Aoyama, wo oft bis in die Nacht unter Hunderten von Kirschbäumen gefeiert wird. Beliebter Hanami-Spot ist schließlich der Sumida-Park entlang des Sumida-Flusses: Ausflugsboote kreuzen parallel zum Ufer, das sich unter einem rosa Schleier verbirgt, der nachts angestrahlt wird, hier stehen die Blüten 24 Stunden im Rampenlicht.

Die Kirschblüte beginnt auf den japanischen Hauptinseln in der zweiten Märzhälfte, startet auf Okinawa in Nippons subtropischem Süden allerdings schon Ende Januar und arbeitet sich dann gen Norden empor, pro Tag etwa 25 Kilometer. In den Medien wird täglich ausführlich über den Vormarsch der "Kirschblütenfront" berichtet, fast so als handele es sich um einen Hurrikan. Aufgrund der milden Temperaturen sprießen die ersten Blüten in Tokio bereits dieser Tage, eine Woche früher als üblich; Kyoto folgt drei, vier Tage später. Auf Hokkaido im vergleichsweise kalten Norden beginnt die Kirschblüte in der ersten Maiwoche.

Doch nicht allein der Beginn der Blüte wird beobachtet. In den großen Parks stehen offizielle sogenannte Maßstabsbäume, deren Knospen von Gärtnern und Meteorologen begutachtet, gewogen und vermessen werden. Von den Messungen hängt ab, ob auf den Anzeigetafeln der Parks und Touristenbüros Sambuzaki vermeldet wird (30 Prozent Öffnung der Blüten) oder Mankei (volle Blüte).

Etwa eine Woche nach Beginn erreicht die Kirschblüte ihren Höhepunkt, eine gute Woche stehen die Bäume in voller Pracht da. Um das Naturschauspiel zu verlängern, wurden in Parks und Straßen bewusst unterschiedlich früh und spät blühende Baumsorten gepflanzt, deren Blüten zeitlich versetzt aufgehen. Durch diesen Trick und die Wanderung der "Kirschblütenfront" erstreckt sich die Sakura-Saison über mehrere Monate.

Bis Ende Mai. Dann ist auch im hohen Norden Schluss. Ein kurzer Schauer, ein leichter Windhauch reicht aus, und die letzten Kirschblüten rieseln zu Boden. Ruhe kehrt ein in den Parks, Straßenkehrer beseitigen Berge von Blütenblättern. Die Party ist vorbei - bis Ende Januar. Dann werden auf Okinawa wieder die ersten Kirschblüten knospen und die Sakeflaschen kreisen.