Die Skiwelt Wilder Kaiser Brixental wurde von Experten zu den besten Skigebieten der Welt gewählt. Doch kaum jemand kennt diese preisgünstige Perle aus Pulverschnee, perfekten Pisten und Familien-Programm. Ein Erfahrungsbericht von Daniela Pemöller.

Es ist nicht so gebotoxt wie Kitzbühel, nicht so hochnäsig wie das adlige St. Moritz, nicht so herabgerockt wie die beiden Ski-Luder St. Anton oder Sölden und schon mal gar nicht so schamlos wie die alte Party-Schlampe Saalbach-Hinterglemm. Nein, Hopfgarten ist so wie sein Name. Klein, niedlich und ehrlich. Aber nur auf den ersten Blick. Denn Hopfgarten liegt mitten in Österreichs größtem zusammenhängenden Skigebiet: 279 Kilometer Piste, 90 moderne Lifte und Bahnen sowie über 70 urgemütliche Hütten zum Einkehren. Das überzeugte auch die Experten, sie kürten die Skiwelt Wilder Kaiser Brixental jüngst unter 70 getesteten Gebieten in acht Ländern zur Nummer eins. Grund genug, das Aschenputtel der Alpen unter die Lupe zu nehmen.

"Wasser gehört den Fröschen, doch den Sängern Bier und Wein", trällert der Kirchenchor von Hopfgarten gut gelaunt im Gasthof Oberbräu. Das Traditionshaus im Herzen von Hopfgarten ist bis auf den letzten Platz belegt. Die Lungen voll frischer Bergluft, die Beine müde von der Abfahrt, schunkeln bärtige Einheimische mit hungrigen Mägen neben jungen, australischen Surfer-Typen. Genauso hat sich Nicole Milesi (27) aus Melbourne, eine Snowboard-Anfängerin, das archaische Österreich vorgestellt. Rustikale Eiche trifft auf leichte Lebensart. "Wo ist der Mann, der uns Nachschub bringt", grölen die Männer der Brüderschaft am Tisch nebenan. Gemeint ist Patrick Ager (39), der den Gasthof in vierter Generation führt und sich gerade mit Nicole unterhält. "Engelbert who?", schreit die Blondine gegen den Gesang an. Engelbert Humperdinck! Nein, den König der Romantik, den Meister der Schmusesongs kennt die hübsche Australierin nicht.

Mehr als 40 Jahre ist es her, dass der Frauenheld mit seinem Hit "Please Release Me" die Beatles von der Spitze der Hitparade fegte. Patrick Ager wirkt ein wenig enttäuscht. Er erzählt gerade, wie Engelbert vor einigen Jahren diesen Hit ganz persönlich für ihn hier im Haus zum Geburtstag gesungen hat. Wie sich eine Freundschaft entwickelte und wie er, Patrick Ager, den Star dann ein Jahr später in den USA besuchte. Doch das alles interessiert Nicole nicht. Die Radiologin will lieber wissen: Wie trinkt man denn nun eigentlich diesen "Schnääääps"? Ager unterdrückt ein Gähnen. Seit 6.30 Uhr ist er auf den Beinen. Nachdem er das Frühstück für seine Gäste vorbereitet hat, beginnt der gelernte Koch um acht Uhr seinen zweiten Job - als Lehrer in seiner Skischule Alpin. Nach dem Unterricht, um 15.30 Uhr, muss Ager sofort zurück in die Küche seines Gasthofs. Das Abendessen zubereiten. Ja, so einen echten Hopfgartener Burschen haut nichts um. Nicht mal ein Kreuzbandriss: "Am nächsten Tag stand ich schon wieder in der Küche." Und eine Woche nach dem Unfall auf den Brettern. Für Hopfgarten alles völlig normal. Auch die anderen Teilhaber der Skischule, erzählt Ager, haben einen zweiten Job, als Ingenieur oder Tischler. Vor Mitternacht komme hier meist keiner ins Bett.

Morgens an der Gondel treffen sich die Nationen: Australier, Holländer, Engländer, Skandinavier - sie alle sind längst Stammgäste in Hopfgarten. Und auch die Bayern kommen gern. Manche nur fürs Wochenende, schließlich braucht man von München bloß eine Stunde mit dem Auto. Martina Pietsch (42) aus Ingolstadt fährt seit vier Jahren mit ihrer Familie in das 5000-Einwohner Dorf in Tirol. Der guten Kinderbetreuung wegen. Johanna, ihre Kleinste, ist gerade vier geworden. In der Skischule wird sie von zwei Lehrern betreut. "Wenn ein Kind weint, kann einer trösten, und der andere kümmert sich um den Rest der Rabauken", erklärt Pietsch. Nach der Skischule bringt der Lehrer die Kleine in den Kindergarten des Hotels. Dort bekommt sie Essen und wird dann samt Babyfon im eigenen Appartement ins Bett gesteckt. "Wenn ich um zwei von der Piste komme ist Johanna ausgeschlafen. Für mich der pure Luxus", meint Pietsch. Auch ihre beiden anderen Töchter lieben Hopfgarten. Vor allem wegen Schatzsuche. Wo kann man schon mit echter Schatzkarte versteckte Gummibärchen auf Schnee-Pisten suchen?

Zur Dämmerung trifft sich Nicole mit Phil (26), einem Computerfachmann aus Brisbane und anderen Freunden an der Talstation der Bergbahn zum zweistündigen Nachtrodeln (Kosten: 15 Euro). Mit den Schlitten im Gepäck fahren sie auf 1532 Meter hoch ins Blaue der Nacht. Vorbei an verwaisten Pisten und einsamen Hütten. "Diese unendliche Stille der Berge ist atemberaubend", flüstert Nicole. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Oben am Alpengasthof Rigi verteilt Rodel-Rittmeister Balthasar Sieberer (39), von allen nur Hausl genannt, Kopflampen. "Damit ihr den Wölfen und Bären ausweichen könnt", scherzt er. Der kleine Tom (4) guckt mit großen Augen seine Mutter an. Doch die lacht entwarnend. Und dann geht es los. Frei nach der Devise: Friss meinen Schnee. Im rasanten Tempo sausen die Rodler kurvenreiche, dunkle Waldwege hinab, auf denen keine zwei Schlitten nebeneinander Platz finden. Ganz weit vorn: die Einheimischen mit ihren Gallzeiner-Schlitten. Das sind handgefertigte Kunstwerke, eine Art Porsche auf Kufen, die gern schon mal 300 Euro kosten. Jetzt bloß nicht abdrängen lassen. Links warten bedrohlich die dunklen Tannen, rechts ein steiler, verschneiter Hang. Nicole lehnt sich zurück, wirft ihr Gewicht in die Kurve, lenkt mit Füßen und Händen. Reihenweise scheppern die Schlitten ineinander. Nicole jauchzt, doch den Drängler Phil lässt sie nicht vorbei. In der Sunnseit Hütte wird spontan ein Pitstop eingelegt. Zu verlockend die pulsierenden Bässe und das leckere "Sonnenstoff"-Bier. Schon bald schmettern selbst die Australier ein kräftiges "Schiiiii Foaaahn". Doch bei "Komm hol das Lasso raus, wir spielen Cowboy und Indianer" kapitulieren sie ob fehlender Deutschkenntnisse und satteln beschwingt zur letzten Etappe auf. Entlang einer vereisten Straße, auf der so mancher Funke fliegt, brettern sie ins Tal. "Wicked!", brüllt Phil mit glühenden Wangen. Abgefahren! Jetzt schnell umziehen. Denn gleich fährt der Bus ins 22 Kilometer benachbarte Kitzbühel. Dort, so habe er gehört, liege ja "the real partyzone".

Während Phil mit seinen Kumpels gerade aus der letzten Kitzbüheler Kneipe torkelt, spannt Niki Schelle (43) die Felle auf seine Tourenski. Es ist acht Uhr morgens: die Stunde der Extremsportler. In der Nacht hat es geschneit, noch sind Pisten und Berghänge unberührt. Diesen Pulvertraum will sich Schelle nicht entgehen lassen. Obwohl der Rallyefahrer aus Bayern Geschwindigkeit liebt, in Hopfgarten lässt er es gemächlich angehen. "Das sinnlose Hoch- und Runterheizen von Pisten ist nicht mein Ding", sagt er. Schelle steht auf Skitouren. Für manche ist es das Dümmste, das es gibt. Wer will schon freiwillig mühsam mit Skiern die Hänge hochkraxeln? Für Wintersportler ist es die Königsdisziplin, die eine gute Kondition erfordert. Für Schelle ist es die beste Art, dem Pistenzirkus zu entkommen und trotzdem den ultimativen Abfahrtskick zu erleben. Abseits der Zivilisation und künstlich planierter Rennstrecken. Sein Stichwort heißt Entschleunigung. Während die Sonne die Berggipfel im sanften Rosa erstrahlen lässt, stapft Schelle los. Sein Ziel: der 1925 Meter hohe Lodron. Die ersten 50 Meter führen entlang einer Forststraße. Doch schon bald geht es nach rechts ab. Über zunächst noch flache Wiesenhänge, durch den Wald, vorbei an der Rodelbahn folgt Schelle der vorgegebenen Spur. Die Stöcke gleichmäßig schwingend, das Klack-Klack der Bindungen im Takt zum knirschenden Schnee. Immer wieder hält Schelle inne, bewundert das Bergpanorama. Das Spiel der glitzernden Sonnenstrahlen mit den Tannen. Lauscht den zwitschernden Vögeln und dem Plätschern des vereisten Baches. "Diese absolute Ruhe so fern ab vom Kommerz, das erlebst Du nur bei einer Skitour", lächelt Schelle. Je höher er kommt, umso kräftiger weht der Wind. Die verträumten Almhütten lässt Schelle liegen. Er will nur noch eins: schnell hoch zum Gipfel. Der Schweiß rinnt ihm den Rücken hinab, denn die letzte Etappe ist verdammt steil. Doch oben angekommen entlohnt der Ausblick für die stundenlange Plackerei. Die Zillertaler Alpen, die Hohen Tauern aber auch der Großglockner liegen da wie leckere Sahnebaisers. Bilder, die sich auf ewig ins Gedächtnis brennen. Einmal tief Luft holen, ein Stück Schokolade zur Stärkung und schon stürzt sich Schelle in die weiße Wattepracht. Lässt das fluffige Nichts an den Oberschenkeln hoch stauben und wedelt hinab ins Tal von Hopfgarten. Mit jedem Schwung verwandelt sich das Aschenputtel in eine pudrige Prinzessin aus glitzernden Schneekristallen.