Die Stadt, die schon viele Hurrikans über sich ergehen lassen musste, wurde von “Katrina“ fast in die Knie gezwungen. Doch selbst davon hat sie sich erholt, wie Roland Mischke vor Ort sehen konnte.

Man stelle sich vor, im Fußballpokal-Finale würde Eintracht Braunschweig auf Bayern München treffen - und gewinnen! Ähnliches ereignete sich am letzten Sonntag in New Orleans beim Super-Bowl-Finale. Die einheimischen "Saints" ("Heilige") trafen auf den hohen Favoriten mit dem Knallnamen Indianapolis Colts. Vor Jahren hatte Erzbischof Philip Hannan gespottet, der Name Saints sei gut gewählt: "Bedenken Sie, dass die meisten Heiligen Märtyrer waren!" Der 92-Jährige erlebte im Stadion mit, wie die Saints zu Helden wurden. Rund drei Minuten vor Spielende gelang der entscheidende Punkt zum Sieg. Zum ersten Mal ist New Orleans nationaler Meister, mehr als eine Milliarde Zuschauer sahen es weltweit im Fernsehen.

Das Ganze ist symbolisch aufgeladen: New Orleans mischt wieder mit, die fatalen Folgen des Wirbelsturms "Katrina", der im August 2005 die Stadt beinahe untergehen ließ, sind endgültig bewältigt. Zumindest in den Köpfen.

Leichtlebigkeit ist wieder das Motto dieser Stadt. Im halb tänzelnden, halb schlurfenden Gang zeigen das die Bewohner, und nicht nur, wenn sie Football-Siege zelebrieren. Frag einen Menschen hier, was er überhaupt ernst nimmt, er wird grinsen, den Kopf schütteln oder gar den Mittelfinger gebrauchen. Die verwunschenen Friedhöfe, die fröhlichen Leichenzüge, die an der Peripherie der Stadt auf der Straße dösenden Alligatoren, die scharfe Küche, der wilde Karneval. Die Musik im French Quarter, gespeist aus afrikanischen, karibischen, spanischen Einflüssen, gefüttert von der Handorgel, die Deutsche via Auswandererschiff von Hamburg mitbrachten, vom Walzer französischstämmiger Siedler, ein unvergleichlicher Sound aus Jazz, Blues, Gospel, Soul, Funk, Marschmusik und Zydeco. Das ist das alte New Orleans. Und das neue.

Aber auch die Gelassenheit der Leute, ihre Abwehr von Hektik ("This is not New York!"), die unverhohlenen erotischen Avancen in den Straßenzügen mit Häusern, die einladend breite Veranden tragen, und die drückende Luftfeuchtigkeit über allem. Das entspricht dem Mythos vom multikulturellen Melting Pot, dem Schmelztiegel. Als der stärkste tropische Wirbelsturm, der je in den USA gemessen wurde, die Stadt zerstörte, wurden die Menschen evakuiert. Der hochbetagte Sänger Fats Dominio verweigerte sich diesem Befehl. Er wollte seine Heimat nicht aufgeben. Man verlässt sie nicht wie jede andere, wenn man seinen eigenen Herzschlag dem urbanen Puls von New Orleans angeglichen hat.

Schon William Faulkner wusste, worauf es in New Orleans ankommt: zu bleiben. Dann - nur dann - macht die Stadt einen glücklich. Als blutjunger Mann war er in den frühen 1920er-Jahren gekommen, schuftete als Kohlenschipper für die Elektrizitätswerke. So finanzierte er den Lebensunterhalt als Erzähler. Zwanzig Jahre später wurde er als Literaturnobelpreisträger geehrt. New Orleans war für Faulkner die wichtigste Station seiner schriftstellerischen Karriere. In "The Wild Palms" verarbeitete er eine miterlebte verheerende Flut des über seine Ufer tretenden Mississippi. Die Naturgewalt setzte er bildlich gleich mit der Leidenschaft der Liebe, die seine Figuren, den Arzt Harry und seine Geliebte, die verheiratete Charlotte, fortreißen aus den ruhigen Bahnen des Lebens. In einer wüsten Flucht, verbunden mit einer Irrfahrt durch Amerika, treiben sie unvermeidlich in soziale Isolierung, schließlich Verelendung. Ihr Schicksal: Sie haben New Orleans verlassen. Charlotte stirbt, Harry bleibt nur die Erinnerung an sie.

Solche Menschen leben hier. Leidenschaftlicher als der große Rest Amerikas, ekstatischer und unkonventioneller. Ihre Verstorbenen haben sie früher in hoch gemauerte Grabsteine gelegt, damit Überschwemmungen den Leichen nichts anhaben konnten. Das Grab der Voodoo-Königin ist immer noch ein Kultplatz, übersät von Münzen. Verwundete Soldaten aus Afghanistan kommen im Fronturlaub hierher und bitten um Hilfe. Und im French Quarter servieren sie einen bunten Cocktail, der es in sich hat. Sein Name: "Katrina". Serviererinnen in den Kneipen in der Bourbon Street haben sich die leuchtend farbige Flüssigkeit, abgefüllt in Reagenzgläser, ins offenherzige Dekolleté geschoben, die Männer greifen zu und zahlen den leicht überteuerten Preis. Unvorstellbar in Kansas oder Wisconsin, aber in New Orleans normal. Es ist das einzig legale Sündenbabel der USA.

Rund um French Market und St. Louis Kathedrale, im Vieux Carré, dem alten französischen Viertel, wird wieder ausgelassen Musik gespielt. Nachts tanzen Leute wie entfesselt auf den für den Verkehr abgesperrten Straßen, und in den Restaurants wird bei Gumbo-Suppe, Austern, Krabben-Ravioli und Alligator-Steak kräftig zugelangt. Vor "Katrina" kamen zwölf Millionen Touristen nach New Orleans, nach der Stunde null kam niemand, 2008 waren es bereits wieder acht Millionen. Wo Stripperinnen sich in bikiniähnlichem Outfit in die Tür stellen, durch die es zur Show geht, wo so viele Schwule unterwegs sind wie nicht mal in San Francisco, wo auf offener Straße Alkohol konsumiert werden darf und üppig uniformierte Polizisten auf Pferden hochgradig eitel sind, weil alle sie fotografieren, wo irgendwo immer Musik ist - da ist der Geist von New Orleans.

Der Historiker und Künstler Robert Florence (65) empfängt uns in seinem Haus in der Rue Burgundy, Baujahr 1847. Es hat zwanzig verschachtelte Räume mit hohen Wänden, poliertem Holz und feinen Intarsien, mit Teppichen und Kordeln vor Fenstertüren, hinter denen sich ein tropischer Garten mit Springbrunnen erstreckt. Dort erzählt Florence von 77 Französinnen, die, um ihre Sünden abzubüßen, sich im 18. Jahrhundert aus Gefängnissen in Frankreich in Begleitung strenger Ursulinerinnen auf dem Schiffsweg nach New Orleans bringen ließen. 1718 war die französische Kolonie gegründet worden, das Häuserraster so ordentlich wie eine Tafel Schokolade. Fromm sollten die Frauen ihr Werk verrichten, gemeinsam mit kreolischen Gemüsebauern, Trappern irischer Herkunft, deutschen Handwerkern und afroamerikanischen Baumwollpflückern. Das Wichtigste war der Bau einer Kirche, und niemand hätte sich vorstellen können, dass gleich hinterm Gotteshaus einmal die Zone der Toleranz beginnen würde, in der sich die Menschen in einer Luft, die sich anfühlt wie lauwarme Milch, heute Lüsten vielfältiger Art hingeben.

Florence führt durchs Quartier, in dem immer noch rund 5000 Menschen wohnen, obwohl hier jede Nacht Ausnahmezustand herrscht. An der Ecke Chartres, St. Louis Street steht das Haus für Napoleon. Er kam nie und verscherbelte später Louisiana für lachhafte 15 Millionen Dollar, um seine Kriege in Europa zu finanzieren. Aus der Basin Street kam Louis Armstrong, der mit pechschwarzem Trompetenton Dächer abdecken konnte. Florence erklärt die Verballhornung deutscher Siedlernamen an Klingeltafeln: Aus Müller wurde Mueller, aus Rühmkorf Ruhmkorf. Die Deutschen galten als beste Handwerker und Bäcker. In der Gov. Nicholls Street, neben der Nr. 15, zeigt der Historiker auf die unscheinbare Außenfassade eines Altbaus im spanischen Stil. "Fünf Millionen Dollar cash musste Brad Pitt hinlegen, um mit Angelina Jolie und den Kindern einziehen zu können", sagt er. "Der Patio ist ein Traum, mit Pool und subtropischen Gewächsen. Ich kenne das Haus von früher." Er darf nicht mehr hinein, freut sich aber über seine Rettung.

Amerika steckt noch in der Finanzkrise wie in einer Sackgasse, aber New Orleans ist wendig. Die Arbeitslosenrate liegt weit unter dem Landeswert. Mehr als 23 Milliarden Dollar flossen bisher in Reparaturarbeiten, das Baugewerbe boomt, viele der 68 000 durch "Katrina" beschädigten Häuser sind noch zu sanieren. Ein Masterplan wird umgesetzt, der New Orleans fußgängerfreundlicher und grüner macht. Die letzten historischen Waggons der Straßenbahnen, mit Mahagonisitzen und alter Hydraulik, aufwendig restauriert - pro Waggon kostete das eine Million Dollar - sind wieder auf die Schiene gesetzt und begeistern Touristen. Bis zu 300 Jahre alte Bauten entlang der Canal Street und im Viertel werden vor dem Verfall bewahrt, die historischen Theater erneuert, Traditionsrestaurants wie das "Palace" oder "Two Sisters" sind jeden Abend rappelvoll. Wo so viele so viel machen, wollte auch Brad Pitt das Seine dazu tun: Er beauftragte das Berliner Architekturbüro Graft, 150 hurrikansichere Häuser im Armenviertel zu bauen und spendete dafür fünf Millionen Dollar.

Es sieht gut aus für die Stadt, die wieder in Partylaune ist. Das Schmieröl der Stimmung ist die Musik. Allein die City zählt 58 Jazzklubs, in der Frenchmen Street sieben davon in einer Entfernung von nicht mal 50 Metern. Die Hauptstraßen des French Quarters haben Rockmusiker unter sich aufgeteilt, Gitarren die Blasinstrumente verdrängt. Aber in der Preservation Hall in der St. Peter Street wird Besuchern von Veteranen nach wie vor mit "When The Saints" der Marsch geblasen, da spielt eine Rebirth Brass Band auf und dort singt ein afrikanischer Straßenmusiker "Hey, Joe" so hingebungsvoll, als sei Jimi Hendrix auferstanden. Aufgespielt wird auch in Hotellobbys, Pianobars, Cafés und an jeder zweiten Straßenecke. New Orleans tanzt und lacht - und ist schöner als je zuvor.