Von Freiburg nach Hamburg, wenn andere schlafen. Das ist eine Art des Reisens, die Zeit lässt für Gedanken und Begegnungen.

Hamburg. Da will ich hin. Mit dem Auto ist es ein Kraftakt quer durchs Land, mit dem Zug ungleich bequemer. Und sogar halbwegs bezahlbar, von Freiburg aus. Nachts gefahren, spare ich Zeit, wenigstens gefühlt.

Aber es kommt immer was dazwischen. Nicht nur, dass statt einem schnellen ICE diesmal ein IC unterwegs ist. Es hat auch noch einer Schluss gemacht auf den Gleisen, nur einen Katzensprung entfernt. Sie sagen es hinter vorgehaltener Hand.

In dieser Nacht ist die Stimmung anders im Zug - familiärer, persönlicher. Manchmal lösen so traurige Ereignisse die Zungen auf unerklärliche Weise. Die Leute legen ihren Panzer ab: Schaffnerin, Lokführer und Fahrgast treffen sich zum Plaudern an der Tür von unserem Wagen. Die Bahnleute erzählen, die ICE seien gerade in der Untersuchung. Der Winter ...

"Gibt es überhaupt so ein' IC? Habe ich noch nie gesehen!" Der Mann im Nachbarabteil ist älter, spricht leichten Akzent. Am nächsten Morgen will der Germanist aus Riga seinen Flug in Frankfurt kriegen. Kollegen hat er getroffen in Freiburg, wir reden. Christa Wolf, Max Frisch, Uwe Johnson und andere kommen dabei vor.

Wir stehen und warten, kein Rad will sich drehen. Aber niemand schimpft. Alle wissen: Die Bahn ist machtlos gegen Selbstmörder. Da hat einer aufgegeben, kapituliert, den letzten Strich gezogen. Dass er den, der ihn überfahren hat, in größte Schwierigkeiten bringt, ist ihm gleichgültig. Dass Ärzte, Sanitäter, Polizei, der "Notfallmanager" der Bahn, sich die Nacht um die Ohren schlagen, auch. Und wer die Gegend hier im Südbadischen ein wenig kennt, weiß, dass so was hier häufiger passiert, ein großes psychiatrisches Krankenhaus ist in der Nähe des Unfallorts. Aber niemand redet davon, keine Zeitung berichtet.

Ich will nach Hamburg. Leute treffen, ein Stück mehr dieser Stadt für mich erobern. Was machen wir Beförderungsfälle also noch hier? Mein Auto steht in einem Vorort, weit nach Mitternacht gibt's keine Chance, dorthin zu kommen, den Zug stehen zu lassen und einfach loszufahren.

Ist es wichtig, wann der IC dann doch startet? Fast zwei Stunden dauert es. Flott, im schönen Wortsinn zügig. An einer Baustelle blinkt die Rottenwarnanlage durch die Nacht, der Zug muss für ein paar Kilometer auf das Nachbargleis. Dann, immer wieder, Güterzüge, die uns entgegenkommen. Die Lokführer können ihren "Vordermann", also den nächsten Zug, sehen - wie an einer Schnur aufgereiht rumpeln die Wagen durch die Nacht. Züge, die auf Sicht fahren - wer die Eisenbahn kennt weiß, dass das sehr ungewöhnlich ist.

Die Schaffnerin hat die eintrainierte Formelsprache der Bahn ("Thank you for travelling with Deutsche Bahn") hinter sich gelassen; kommt vorbei, hebt den Daumen: "Es sieht gut aus!" Um jeden Meter kämpfen sie, sagt die Zugbegleiterin und eilt weiter.

In Frankfurt will ich aussteigen in den Nachbarzug, der schneller nach Hamburg kommt, eine Stunde. Zwischen Lokführer und Transportleitung dürfte es in dieser Nacht mehrere Unterhaltungen gegeben haben.

Denn die DB reagiert richtig flexibel: Kurzerhand werden gleich drei Haltestellen gestrichen. Wir sparen uns den Umweg über Heidelberg und fahren direkt von Karlsruhe nach Mannheim. Das regelmäßige Raunen der Räder lässt mich dann doch müde werden: Mir fallen die Augen zu.

Gegen das Weiterschlafen hilft ein Wecker, unverzichtbar beim Nachtzugfahren und sowieso in jedem heutigen Handy. Der Bahnsteig in Frankfurt ist, als wäre ich kaum wirklich weg gewesen: Die letzte Nachttour ist gerade sechs Wochen her. Sonst schaue ich hier nachts den Eisenbahnern zu, wie sie den Zug herrichten, die Szenen wiederholen sich. Ein Drecksack nach dem anderen fliegt auf den Bahnsteig, mit dem Staubsauger ziehen die Männer in Arbeitskleidung und knallorangenen Schutzwesten durch die Hänger, dann prescht eine Elektrokarre herbei, die die Säcke einsammelt; und der Reinigungstrupp zieht rauchend und laut redend davon. Deutsch spricht hier keiner, Türkisch wird es wohl sein. Vorn, auf dem Querbahnsteig, öffnen die Buden. Die Gesichter hinter den Tresen sind mir längst vertraut: Verschlafen wirkende Männer richten müde ihre Sandwiches her; der Kaffee, den es hier morgens schon gibt, ist stark - und heiß sowieso. Man kann Frankfurt beim Aufwachen zusehen, Straßenbahnen ziehen gemächlich vorbei, dort hinten könnte ich zur Museumsinsel laufen. Richtig dunkel ist es nicht, dafür brennen zu viele Lichter überall. Ab und zu kommen sie mit einer einsamen Lok in den Bahnhof gefahren; niemand hat es in diesen Nachtstunden wirklich eilig.

Ich denke an Hamburg, lese, schaue Mails an, die Zeit vergeht, irgendwann kann ich einsteigen - zwei Stunden Aufenthalt können sich kurz anfühlen, wenn man sich aufs Ankommen freut. Wie gesagt: Sonst ist das so - irgendwas kommt ja immer dazwischen.

Heute Nacht läuft es nämlich anders. Wir kommen später nach Frankfurt, die Umsteigezeit ist auf ein Minimum geschmolzen. Auch der neue Zug ist ein Ersatz-IC, die Wagen sind schon sauber, der Zugchef kommt und macht Licht. Noch sind die Wagen wie ausgestorben, das wird sich aber bald ändern.

Nach Hamburg gibt es zwei Wege mit der Eisenbahn aus dem Süden: Der eine geht über Fulda und Kassel, der andere über Köln. Rechts herum ist es schöner. Nicht nur, weil man viele Menschen trifft - man kann reden und sieht sich nie wieder. Laut parlierende Lehrer auf dem Weg zur Arbeit, ein Technikspezialist unterwegs zur großen Lokfabrik. Einer erzählt von der schweren Operation der Tochter, der Eisenbahn-Ingenieur schimpft über Technikkonzepte, die er einfach schlecht findet. An der Grenze zwischen Hessen und Niedersachsen steigen die Pendler in großen Gruppen ein: Göttingen, Fulda, Hannover. Allesamt geübte Bahnfahrer, die jeden Tag unterwegs sind, so, wie sie sich gebärden. Kaffee aus Pappbechern, Bäcker wurden leer gekauft, andere haben die Thermosflasche mit. Eine Frau schläft, ein Mann schaut in seinen Laptop, entwirrt Ohrhörer, packt eine CD aus.

Was das Schönste ist? Wenn morgens die blutrote Sonne aus den Feldern steigt. Oder im Winter eine Breughel-Landschaft langsam Konturen annimmt, die attraktiver nicht sein könnte.

Schneereste, die blattlosen Bäume zwischen den Feldern, das Licht wirkt noch sehr fahl. Wenn ich morgens durch Uelzen fahre, durch Lüneburg, wenn dann Harburg erreicht ist und sich der Zug an der HafenCity in den Hamburger Hauptbahnhof schiebt, dann bin ich endlich angekommen.

Und dann die letzten Meter bis Dammtor an der Alster vorbei. Sie sind einfach ein Fest: Fast ist es, als winkten das Rathaus, die Prachthäuser an der Alster, überhaupt die Stadt, herüber. Schön, dass ich wieder da bin, sagen sie.