Nach nur drei Stunden Flug tauchen Europäer ein in eine völlig fremde Welt - mit Wüsten und Kamelen, Oasen und Palästen, Märkten und Muezzins. Wahre Pracht findet man erst hinter unscheinbaren Mauern.

Als das Taxi, das wir uns am Bahnhof von Fes hart erkämpft und für das wir das Doppelte des üblichen Preises bezahlt hatten, auf dem Parkplatz irgendwo am Rand der Medina ankam, ging alles ganz schnell. Zwei junge Männer griffen nach den Koffern, luden sie in einen Handkarren und winkten uns, wir sollten ihnen folgen. Dann liefen sie los.

Uns blieb nichts übrig, als hinterherzulaufen, zumal der Taxifahrer noch gesagt hatte: "Ohne Hilfe finden Sie Ihr Hotel nie." Er sollte recht behalten. Denn so sicher und so schnell, wie die beiden Jungs uns durch die engen Gassen der Medina führten, so sicher hätten wir allein uns dort verlaufen.

Die Altstadt von Fes ist anders als die der anderen Königstädte. Enger, dunkler, keine Autos, dafür jede Menge Esel und Maultiere. Es sieht aus, als hätte sich hier seit Hunderten Jahren nichts geändert, und das macht Fes so besonders. Um es vorwegzunehmen: Die Stadt ist deutlich interessanter und eindrucksvoller als das von allen so gerühmte Marrakesch. Wir sind in Marokko, dem idealen Land für alle, die weit weg wollen, ohne lange fliegen zu müssen. Von Deutschland aus sind es gute drei Stunden, die Zeitumstellung ist marginal, das Klima warm, aber nicht feucht, es gibt keine Malaria oder andere nennenswerte Infektionskrankheiten. Trotzdem ist Marokko für einen Deutschen eines der exotischeren Ziele der Welt (wenn er nicht gerade nach Agadir fliegt). Die Mischung aus Afrika, Orient und Europa können selbst Einheimische schwer beschreiben, die sich in Tanger eher bei den Spaniern, in der Sahara aber in Afrika sehen.

Das Land und seine Menschen sind reich an Überraschungen, überall. Das beginnt bei der Ankunft in Casablanca. Casablanca!, denkt der Tourist, sieht Humprey Bogart vor sich und möchte die Stadt unbedingt besucht haben. Der Marokko-Kenner sagt: Industriestadt, kaum was zu sehen, bloß schnell weiter. Und das stimmt, selbst das Vier-Sterne-Hotel ist eine Enttäuschung. Also geht es mit der Bahn, die an den Metronom in Hamburg erinnert und genauso pünktlich ist, schon zehn Stunden nach der Ankunft weiter Richtung Rabat. Die aktuelle Hauptstadt ist ideal für den Einstieg in die Welt der Medinas, klein und überschaubar: Für den Besuch des Hassanturms, des Wahrzeichens Rabats, der Kasbah (Festung) Oudaya direkt an der Atlantikküste und des pompösen Mausoleums von Mohammed V. reicht ein Tag. Das Gleiche gilt für Meknes, das man gut als Tagesausflug von Fes aus besuchen kann.

Für die schönste aller Königsstädte braucht man dagegen Zeit - und einen Führer, den man am besten von Deutschland aus bucht. Unserer heißt Mohammed, ist in der Medina von Fes aufgewachsen und hat auch nach vier Stunden noch nicht genug davon, uns durch die Viertel zu führen. Der Höhepunkt, im wahrsten Sinne des Wortes: Der Blick von einer Dachterrasse auf die Gerber, die in großen Farbbottichen hin- und herstapfen. Deren Viertel liegt nur drei Minuten Luftlinie entfernt von unserer Unterkunft, die wir ohne Mohammed bis heute nicht gefunden hätten. Dafür ähneln sich die Gassen von Fes zu sehr, dafür gibt es zu viele davon und zu wenig Straßenschilder, die ein Europäer lesen könnte.

Noch dazu sehen die Häuser alle gleich aus - und nicht gerade gepflegt. Das hat Geschichte, erzählt Mohammed. Von außen soll niemand erkennen, wo die Reichen und wo die Armen wohnen. Das ist Integration auf marokkanisch, die erst dann endet, wenn sich eine der dicken Holztüren öffnet. Etwa die des Riad "Laaroussa". Riads sind kleine Boutique-Hotels, die aus ehemaligen herrschaftlichen Häusern mit Innenhof, einem Brunnen und einem Dachgarten entstanden sind. Das "Laaroussa" gehört dem Franzosen Fred. Er hat den Palast aus dem 17. Jahrhundert zwei Jahre lang liebevoll restauriert und vermietet seitdem sieben Zimmer an Touristen. Obwohl die Altstadt nur ein paar dicke Mauern entfernt ist, fühlt man sich hier wie in einer anderen Welt: kein Trubel, kein Lärm, kein Schmutz, ein eigener Hamam, ein Kamin und eine Fatima, die abends landestypisch kocht. Draußen frühes 20. Jahrhundert, drinnen ein kleines Paradies - was für eine Kombination.

Es fällt schwer, Fes zu verlassen, wir tun es trotzdem, mit einem alten Mietwagen. Marokko lässt sich gut mit dem Auto bereisen, die Straßen sind in Ordnung, verfahren kann man sich kaum - und anders kommt man nicht dorthin, wo jeder Reisende gewesen sein muss: in die Wüste. Das Ziel heißt Merzouga, und der Weg wirkt zeitweise wie eine Reise auf dem Mond. Das Dorf ist klein, unscheinbar und etwas hässlich, doch das macht nichts. Denn hier beginnt das Abenteuer erst. Das letzte Haus auf der linken Seite ist es, Ali Oubassidi wartet schon davor. Der Chef des "Ksar Bicha" schickt von hier aus vor allem Deutsche, Schweizer und Österreicher in die Wüste. "Vergesst Handy und Internet, lebt einfach im Hier und Jetzt", sagt er, als sich unser kleiner Trupp auf Dromedaren in Bewegung setzt, und fügt leise hinzu: "Empfang habt ihr dort draußen übrigens trotzdem."

Dort draußen, das ist ein Wüstencamp, etwa eine Dromedarstunde von Merzouga entfernt. Die Führer erzählen, dass es Menschen gibt, die die Stille dort nicht aushalten. In Wirklichkeit ist sie einzigartig, genau wie der Sternenhimmel. Keine Nacht war schöner als die in dem engen, mit Teppichen abgehängten Zelt, als die Kerze heruntergebrannt war und das einzige Licht von der Taschenlampe der Wiener Nachbarn kam, wenn die sich mal wieder einen Ort für ihre Toilette suchten (Platz genug gibt es dafür auf jeden Fall).

Wir müssen weiter, auf der Straße nach Marrakesch, vorbei an unzähligen Oasen, der Todra-Schlucht und dem Dadéstal nach Skoura in das Riad der Französin Caroline Lecomte, das "Les Jardins de Skoura". Weil wir die Wüste so gut überstanden haben und so locker mit dem eigenen Auto durchs Land kommen, werden wir auf den letzten Kilometern bis zu unserem Ziel nachlässig. Wir achten nicht genau auf die Hinweisschilder, kommen von der steinigen Piste ab und stehen plötzlich mit dem Toyota in einem Olivenfeld. Mitten unter Erntehelfern, die zwar helfen wollen, aber keine der von uns probierten Sprachen sprechen. Es dauert anderthalb Stunden, bis wir aus dem Labyrinth heraus und zu Caroline gefunden haben. Es fängt an zu dämmern. "Ihr habt Glück gehabt", sagt sie, "im Dunkeln wäret ihr da draußen verloren gewesen." So sind wir bei ihr, übernachten im Lehmhotel mit einem der schönsten privaten Gärten, den es in Marokko geben mag.

Wir würden gern noch bleiben, aber Caroline hat kein Zimmer frei, und in Marrakesch warten Sébastian und Didier. Die beiden - man ahnt es schon, Franzosen - haben das Riad "Dar Vedra" vor sechs Jahren eröffnet und ziemlich stylisch eingerichtet. Wir geben den Mietwagen am neuen Flughafen von Marrakesch ab und finden zum Glück einen Taxifahrer, der uns zu fairen Bedingungen in die Medina fährt. Schwierig bei einem Marokko-Aufenthalt: Entweder will der Taxifahrer zu viel Geld oder er hat keine Lust, in unsere Richtung zu fahren. Bei der Suche nach dem Riad muss uns dann noch ein Junge helfen, der uns wirklich den schnellsten Weg zeigt. Für den Fußweg in die Stadt ist Inhaber Didier später behilflich: "Bei eurem ersten Gang in die Souks begleite ich euch", sagt er. "Dann kann ich euch alles zeigen und sicher sein, dass ihr auch zurück findet."

Kein schlechter Service. Doch Marrakeschs Gassen sind nicht so eng und irreführend wie die von Fes, man trifft auf viele Reisende. Und so kommt es uns fast ein wenig langweilig vor, was die so viel gelobte Stadt zu bieten hat. Die Stadt, die derzeit bei Hollywoodstars so angesagt ist - die aber nicht halb so exotisch ist wie Fes.

Klar, die Märkte sind riesig, und der große Platz Jemaa el Fna wurde nicht umsonst zum Weltkulturerbe ernannt. Doch die Bewohner sind zu sehr auf Touristen eingestellt, nirgens kann man laufen, ohne angesprochen, gar bedrängt zu werden. Wer nicht aufpasst, hat plötzlich einen kleinen Affen auf der Schulter, oder eine Schlange um den Hals - für ein Foto. Auch Stadtführer Hassan ist eine Enttäuschung. Einmal bleiben wir auf der Tour durch die Souks einfach stehen. Er merkt es nicht einmal, verabschiedet sich wenig später, anderthalb Stunden vor dem geplanten Ende des Rundgangs. Haben wir ihn zu sehr mit Fragen zum Hammelfest genervt, das die Marokkaner an unserem letzten Urlaubstag feiern?

An diesem Wochenende werden vier Millionen Schafe geschlachtet, die zuvor auf Motorrädern, Schubkarren und Autos in die Medina transportiert werden. Im Innenhof des Nachbarhauses stehen gleich drei. Die Kinder spielen mit ihnen, die Tiere fressen Heu und blöken. Bis am Sonnabend auf einmal überall Rauchsäulen aufsteigen und kein Tiergeschrei mehr zu hören ist. Das Schweigen der Lämmer. Wir gehen ein letztes Mal durch die Stadt, die wie ausgestorben wäre, wenn nicht an jeder Ecke Jugendliche Schafsköpfe verbrennen würden.

Auch das ist Marokko. So nah und so weit weg.