Keine Hotels, keine asphaltierten Straßen, keine Ferienbungalows: Nur zwei Stunden vom Trubel der großen Ferieninsel entfernt scheint die Uhr stehengeblieben zu sein.

Es Port. José Reyes Ferré überlegt kurz. Ob er eine Lieblings-Bar auf dieser Insel habe? Er streicht sich mit der rechten Hand durch die grauen Stoppeln des Drei-Tage-Bartes, macht schließlich eine halbe Drehung und zeigt auf die überdachte Veranda mit den vier Tischen und dem Schankraum dahinter. "Diese da", sagt er. "Die ohne Namen. Die Bar von Cati. Weil das Bier schön kühl ist und die Schinkenbrote und die Oliven dort lecker sind. Und weil der Blick von dort aus auf diese stille Bucht unbezahlbar ist." Er grinst, denn am Ende fiel die Entscheidung leicht: Es ist die einzige Bar von Es Port, die einzige Versorgungsmöglichkeit für Fremde in dem 42-Einwohner-Ort zweieinhalb Bootsstunden von Palma de Mallorca, sogar die einzige auf der ganzen Insel Cabrera. Der Fischer Reyes Ferré ist häufig hier, schläft dann auf seinem Kutter, startet frühmorgens zur 24-Stunden-Fangfahrt in den fischreichen Gewässern. Fünf, sechs Monate im Jahr ist der Andalusier mit seiner achtköpfigen Besatzung unterwegs, immer im Gefolge der großen Fischschwärme des westlichen Mittelmeers. Der Cabrera-Archipel mit seinen alles in allem 17 Eilanden und der gleichnamigen Hauptinsel ist ihm inzwischen zur zweiten Heimat geworden: weil es keine Uhren gibt und irgendwer vor einer Ewigkeit die Zeit angehalten hat. Und weil Cati und ihr Vater Joan diese gemütliche Bar mit dem Blick aufs Wasser führen. Und ein bisschen auch, weil hier keiner viel redet, keiner zu viel fragt, es fast keine Autos und gar keine Leuchtreklame gibt, kein Hotel, nur die 30 Ranger, Naturschützer und Feuerwehrleute der Nationalpark-Behörde, dazu die immer fröhliche, dicke Krankenschwester, drei Polizisten, die Familie um Joan und seine Schafe und Wirtin Cati.

Besuch kommt nur tagsüber nach Cabrera, wenn irgendwann zwischen zehn und elf am Vormittag das erste Ausflugsschiff aus Mallorca festmacht - und spätestens nachmittags um fünf wieder ablegt. Der gesamte Archipel war fast ein Jahrhundert lang militärisches Sperrgebiet. Die Soldaten sind inzwischen abgezogen, und seit einigen Jahren ist die Inselgruppe mit ihren gut 13 Quadratkilometern Landfläche und den umgebenden Gewässern Nationalpark - strenger geschützt und besser bewacht als zu Zeiten des Militärs, dessen lästige Manöver der urwüchsigen Insel immer wieder Wunden zugefügt hatten.

Urbanisierung ist strikt ausgeschlossen, Anlandung ausschließlich an der Mole von Es Port gestattet. Besucher dürfen nur bei Tag kommen, nicht über Nacht bleiben - es sei denn, sie befinden sich an Bord eines Schiffes und haben in der weit geschwungenen, geschützten Bucht von Es Port unterhalb der Festung aus dem 14. Jahrhundert Anker geworfen.

Bis zu 50 Boote dürfen dort zeitgleich liegen - jedoch jedes einzelne nur nach Voranmeldung bei der Nationalpark-Behörde in Palma, im Hochsommer nur für eine, in den Monaten davor und danach für maximal zwei aufeinanderfolgende Nächte, von Oktober bis Mai für bis zu einer Woche. Gut einen Monat im Voraus sollte man sich anmelden, denn die Nachfrage nach den Liege-Lizenzen ist im Sommer groß: nicht unbedingt wegen der Schinkenbrote und der Oliven in der Bar an Land, mehr wegen dieser unerwarteten Abgeschiedenheit.

Ignacio Larrauri kann das gut verstehen. Er ist schon seit 19 Jahren dabei - immer eine Woche hier auf Cabrera, die nächste zu Hause drüben auf Mallorca. Der Mann ist Ranger, schaut nach den nistenden Fischadlern an der Süd-, den Delfinen in den geschützten Buchten der Nordküste, nach Schildkröten und Echsen, manchmal sogar nach den letzten paar Schafen von Joan. Auf Patrouillenfahrt schaukelt er mit seinem zerbeulten Landrover über die durchweg unbefestigten Pisten der Insel und kann auf mancher Strecke nur hoffen, dass ihm nicht gerade das kaum weniger zerbeulte Auto der Jungs von der Guardia Civil, der Polizei, entgegenkommt. Nicht, dass sie etwas gegeneinander hätten, im Gegenteil. Jeder kennt jeden, und viele sind Freunde. Aber die beiden Autos würden auf den engen Schlagloch-Feldwegen kaum aneinander vorbei passen. Meistens nämlich lässt die Landschaft keinen Platz für zwei Fahrzeuge nebeneinander. Und wo ausreichend Fläche wäre, ist Ignacio gegen das Überholen: weil er nicht nur Fischadler, Delfine und Echsen schützen muss, sondern auch die seltenen Pflanzen am Wegesrand. Keine davon will er unter seinen Reifen haben - und niemanden anderen beim Darüberfahren erwischen. Auch nicht die Polizisten.

Solche Probleme gibt es nicht, wenn Ignacio nach Feierabend seinen Lieblingsplatz ansteuert: den Faro Punta Ensiola. Gut sechs Kilometer Fußweg pro Strecke sind es bis zu diesem Leuchtturm und nirgendwo ist die Welt weiter weg: "Ich hocke mich dort kurz vorm Sonnenuntergang auf die Felsen und sehe den Möwen dabei zu, wie sie den Wind reiten", schwärmt er. Es ist tatsächlich kaum zu glauben, dass der Trubel Mallorcas nur zweieinhalb Kutter-, eineinhalb Ausflugsbootstunden oder zwölf Schnellboot-Fahrtminuten entfernt ist. "Die Soldaten", erzählt Ignacio, "haben sich früher einen Spaß mit Neuankömmlingen gemacht, die sich über den Dienst auf der Insel beklagt und ihre Tage dort als zu langweilig empfunden haben. Denen haben sie erzählt, dort drüben am anderen Ende des Eilands gebe es eine tolle Disco. Die Lichtstrahlen der Werbe-Reflektoren könne man schließlich sogar über die Berge hinweg bis Es Port sehen. Und sie sind losmarschiert." Er lacht. "Und später haben sie andere mit demselben Scherz hereingelegt."

Was für ein Glück, dass alles so geblieben ist und die bereits genehmigten Pläne des Baukonzerns Marsans aus den 1950er-Jahren nicht umgesetzt wurden. Damals sahen die Pläne einen Yachthafen mit Einkaufszentrum und Hotels mit 3000 Zimmern auf Cabrera vor. Wie unterdessen die Bauernfamilie um Joan und Cati auf die Insel kam und warum sie als einzige selbst zu Zeiten des militärischen Sperrgebiets bleiben durften, weiß keiner genau. "Joan ist meistens mürrisch", sagt Ignacio. "Er spricht nicht darüber." Er sei da. Das müsse genügen. Und außerdem wolle es sich niemand mit ihm verderben, denn er backt in einem Holzofen das beste Brot, das man sich vorstellen könne. Und er betreibt die Bar. Wahrscheinlich sahen das schon die Militärs so und ließen ihn gewähren: Das alte Steinhaus am Ortsrand jedenfalls gehörte schon immer der Familie, die Schafe waren schon ewig dort. Und die Sache mit der Vertreibung aus dem Paradies hat schon in der Bibel zu reichlich Aufregung geführt. Das wollte man hier wohl nicht noch mal haben. Im Laufe der Jahre ist sogar der Nachname auf der Strecke geblieben. Keiner weiß ihn - wahrscheinlich außer der Firma, die einmal im Monat die Mobilfunkrechnung an Joan schickt. "Hier braucht keiner einen Nachnamen", findet Ranger Ignacio - und verschwindet mit den Fußballsachen in der Hand zum Umziehen in der Unterkunft.

Heute Abend wollen sie wieder spielen: Ranger und Polizisten im Team gegen Fischer und Freizeit-Skipper auf dem einstigen Bolzplatz der Militärs. Während der Fußball-WM in Deutschland sind sie sogar mal in Nationalfarben angetreten: die spanischen Insulaner gegen elf Italiener, die zufällig gleichzeitig mit ihren Booten in der Bucht ankerten. Spanien hat 4:2 gewonnen. Und Italien wurde Weltmeister - im richtigen Leben. Und gefühlt eine halbe Welt entfernt. Anschließend haben sie sich in der Bar verabredet und gefeiert. Bei Bier, Schinkenbroten, Oliven und Akkordeon-Musik. Der liebe Gott hat derweil den Mond gehisst, die Sterne angeknipst. Ein ganz typischer Abend auf Cabrera.