Wer in dem Jerusalemer Stadtviertel Mea Shearim einen Nachmittag verbringt, erhält Einblicke in die versunkene Welt ultraorthodoxer osteuropäischer Juden.

Der Zusammenstoß am Jaffa-Tor fühlt sich an wie der Aufprall gegen eine Wand, obwohl Itzik Stein gepuffert ist wie eine Figur aus "Fiddler on the Roof". Er trägt einen schwarzen Mantel mit Schärpe, schwarze Hosen, in lange Socken gesteckt, und auf die Kippa hat er einen schwarzen Hut gestülpt. Seine Schläfenlocken kräuseln sich auf Kinnhöhe, sein Gesicht verdeckt ein grau melierter Bart. Itzik hat sich nicht umgeschaut beim Laufen, an den Händen hält er zwei Kinder: links den Sohn Nathan, rechts die kleine Tochter Tal.

"Schabbes, Schabbes", entschuldigt er sich auf Jiddisch. Am Sabbat hat Itzik es eilig. Bevor die Familie am Freitag in der Abenddämmerung in spirituelle Stimmung sinkt, will er mit den Kindern zur Klagemauer in der Altstadt. Beten zu Gott. Auf dem Weg wird er keinem Gojim (Heiden) in die Augen blicken. 40 Minuten vor Sonnenuntergang zünden seine Frau und die anderen fünf Kinder Kerzen an, das Abendessen steht auf dem Tisch. Sind die Kinder im Bett, wird das Paar zum ehelichen Beischlaf übergehen, das ist den Haredim vorgeschrieben. Der Sonnabend wird wie in Schockstarre verbracht. Kein elektrischer Schalter wird betätigt, keine Herdplatte angestellt. Bis zum Abend, an dem die drei Sterne am Himmel stehen, ist für einen frommen Juden jede Aktivität tabu.

An der Kreuzung Strauss Street, Khasanovits und Khayei Adam Street tritt man durch eine Zeitschleuse in die Welt des jüdischen Schtetl in Osteuropa. Empfehlenswert ist, über die Khasanovits in die Ha-Rav Shmuel Salant Street zu gehen, bis sie auf die breite Mea Shearim Street trifft. Dort links abbiegen und über eine der Gassen wieder ins Schtetl. Es ist unglaublich, dass es diese Sphäre noch gibt, in der nur züchtig gekleidete Menschen, keine Miniröcke oder Dekolletés zu sehen sind. Das ist hier verpönt.

Die Straßen sind in keinem guten Zustand, Müll häuft sich, der Wind treibt Plastiktüten hindurch. Es gibt weder Cafés noch Restaurants, nur kleine, verstopfte Geschäfte. Im Angebot sind Hüte und Haarteile aus New Yorks Stadtteil Brooklyn. Männer tragen Hüte, verheiratete Frauen Perücken.

Ihr Haar darunter ist kurz geschoren. "Das Haar einer Frau weckt Begierde", heißt es im Talmud. In den Höfen der Wohnblocks senken sie den Blick, während Kinder neugierig die Fremden anstarren. Der Stadtteil besteht aus Anlagen des sozialen Wohnungsbaus, die nach innen schützen. In verschachtelten, über Treppen und Rampen zugänglichen Höfen begegnen sich die Einwohner, es gibt Spielplätze und Bänke. Familien mit zehn Kindern steht eine Vierzimmerwohnung zu. Die Frauen versorgen die Familien, ihre Männer streben in die Gebetsschulen.

Dort treffen wir zwei Tage später Itzik Stein wieder. In einer Mischung aus altertümlichem Deutsch und Englisch erzählt er uns vom Alltag der Frommen. Er ist einer von Tausenden Religionslehrern in Jerusalem, liest keine Zeitung, in seiner Wohnung gibt es weder Fernsehen noch Computer, auch kein Handy. Die Kinder sind altmodisch gekleidet, die Mädchen in knöchellangen Kleidern, die Jungen mit Kippa. Sie besuchen, nach Geschlechtern getrennt, ganztägig die Jeschiwa. In der 6. Klasse endet der Mathematikunterricht, Englisch und Biologie stehen gar nicht auf dem Stundenplan. Die Haredim, eine der großen Gruppen unter den Ultraorthodoxen, nehmen die Regeln ernst. Übersetzt aus dem biblischen Hebräisch heißen sie "die vor Gott zittern".

Die Siedlung wurde 1840 von polnischen und russischen Juden gegründet. Osteuropäische Haredim besaßen einst in Litauen und Polen bedeutende Thora-Schulen, fast vier Fünftel wurden in Vernichtungslagern des NS-Regimes ermordet. Keine jüdische Opfergruppe zahlte einen höheren Blutzoll, darum waren die Haredim nach Gründung des Staates Israel privilegiert. Sie erhalten Sozialhilfe, weil Männer bis zu 14 Stunden am Tag lesen, lehren und beten, während das Frauen untersagt ist.

Aus der Randgruppe ist wegen ihrer explosiven Vermehrung ein Drittel der Bevölkerung von Jerusalem geworden. Die einzige Verdienerin in der Familie ist fast immer die Frau. Shlomit Stein ist Krankenschwester, lebt im ständigen Ausnahmezustand zwischen Job, Kindern und Haushalt. Trotz ihrer notorischen Erschöpfung nimmt sie als Frau eines Gelehrten eine hoch geachtete Stellung ein. Die Bewohner von Mea Shearim haben ansonsten kein gutes Ansehen, sie gelten in der säkularen israelischen Gesellschaft als Nassauer. Dabei leben mehr als die Hälfte von ihnen unter der Armutsgrenze.

Itzik Steins Kinder tragen gebrauchte Kleidung, besitzen kaum Spielzeug. Die Solidarität unter den Haredim ist überlebensnotwendig: Küchengerät, Betten, Kinderwagen und Bücher werden weitergegeben. Ultrareligiöse Männer befassen sich nicht mit dem Morgen. Sie leben im Jetzt, alles andere muss sich fügen. Es sind Mütter und Töchter, die das Leben organisieren: Sie helfen einander bei den Kindern und kaufen für Nachbarn ein. Zwar ist, so der Talmud, "ein Haus voller Kinder süßer als Honig", aber auch drückend eng.

Die Steins profitieren von der Regierung Netanyahu. Der Ultraorthodoxe Eli Jischai wurde Innenminister, damit wird sich an der sozialen Grundversorgung der Superfrommen nichts ändern. Doch Itzik Stein winkt ab, der säkulare Staat interessiert ihn nicht. Er hat noch nie die Nationalhymne mitgesungen, bei Protesten warf er die israelische Fahne ins Feuer und würde nie ins gottlose Tel Aviv reisen. Die Steins erwarten den Messias, er wird sich eines Tages in Mea Shearim zeigen.

Und bis dahin setzen sie ihr gottgefälliges Leben fort.