Das Skidorf Jungholz ist fast komplett von Deutschland umgeben. Auf den Pisten der Exklave wedeln Deutsche und Österreicher im Parallelschwung.

Der Alleinunterhalter trällert sich in einem Medley quer durch die Alpen: "Herrliche Berge, sonnige Höhen ... im Frühtau zu Berge wir zieh'n, fallera ... mir san die lustigen Holzhackerbuam ... Bergvagabunden sind wir, ja wir ... wo i geh und steh, tut mir's Herz so weh, holaredlduliri, diridldulio, diridldulio, diridldulio ..." Schließlich lässt er auf seiner Zither eine Operettenmelodie erklingen: "Zwei Herzen im Dreivierteltakt, die hat der Mai zusammengebracht, zwei Herzen im Dreivierteltakt ..."

Die Gäste in der rustikalen Wirtsstube lauschen andächtig. Deutsches Bier und österreichischer Almdudler perlen in den Gläsern. In den Skischuhen dampfen die Socken und auf den Tellern Tiroler Speckknödel und Allgäuer Käsespätzle. Die Küche der Schrofenhütte in Jungholz fährt zweigleisig: Deutsch-österreichisch. Auch der Zithermann fährt zweigleisig: "I bin a Allgäuer Tiroler. Oder a Tiroler Allgäuer. Wie's wollt's", philosophiert er zwischen den Takten. Zwei Herzen schlagen, ach, in seiner Brust. Und wie es scheint, ganz harmonisch, im Dreivierteltakt. Keine Spur von Schmäh. Keine Spur von der üblichen deutsch-österreichischen Frotzelei.

Halb Allgäuer, halb Tiroler - so wie der Alleinunterhalter tickt ein Großteil der Jungholzer. Der Ort gehört politisch zu Österreich, genauer gesagt zum Bundesland Tirol, liegt geografisch aber am Rande des Oberallgäus. Jungholz ist fast komplett von deutschen Grenzen umgeben und nur über eine deutsche Straße erreichbar. Es handelt sich deshalb um eine sogenannte funktionelle Exklave - einen Ort, der bis auf einen mickrigen Punkt von einem anderen Staat eingegrenzt ist. Mit anderen Worten: Jungholz ist ein Zipfel Tirol im Allgäu.

Die einzige territoriale Verbindung ins österreichische Mutterland ist der Gipfel des 1636 Meter hohen Sorgschrofens. Er verbindet Jungholz mit dem Tannheimer Tal in Tirol. Ansonsten gibt es reichlich Berührungspunkte mit dem deutschen Nachbarn, nicht nur geografische. Der Ort hat etwa eine österreichische und eine deutsche Postleitzahl. Die meisten Waren werden aus Deutschland bezogen.

Der größte Brücke ist aber der Tourismus: "Die meisten unserer Gäste sind Deutsche", sagt Hans Hatt, Geschäftsführer der Skilifte. Tiroler Landsleute würden sich eher selten blicken lassen. Vor allem deutsche Familien steuern Jungholz an. Die Hänge unterhalb des Sorgschrofen mit ihren sechs Skiliften stellen sich als beschauliches, kinderfreundliches Skigebiet dar.

Mit einem großflächigen Winterkinderspielplatz positioniert sich Jungholz selbstbewusst als ideales Familienwinterziel. In Märcheniglus oder auf Miniskiliften, den sogenannten Zauberteppichen, lernen die Kleinen den Schnee kennen. Außerdem werden einstündige Fahrten im Pistenbully angeboten. Hier lernt Groß und Klein, wie die Pisten präpariert werden. Die zehn Abfahrtskilometer des Skigebiets sind eher zahm als spektakulär. Aber sie stellen somit einigermaßen sicher, dass die Papis nach einem langen Tag im Schnee den Familienvan mit zwei gesunden Beinen nach Hause lenken können. Wem selbst die Skihänge noch zu steil sind, kann sich in Jungholz auch horizontal fortbewegen. Eine Langlaufloipe verbindet Jungholz mit dem Tannheimer Tal.

Das Skigebiet Jungholz war das erste im Allgäu, das auf künstliche Beschneiung gesetzt hat. 1990 ging die Anlage in Betrieb. Damals recht umstritten. Doch zunehmend schneearme Winter haben die Investition längst bezahlt gemacht. "Künstliche Beschneiung ist eine Notoperation, damit der Tourismus weiter funktioniert", gibt sich Hans Hatt pragmatisch. Man könne zig Wellnesstempel bauen, aber der Stoff, aus dem die Winterträume sind, sei nun einmal das winterliche Weiß. Die Operation scheint erfolgreich verlaufen zu sein, das 300-Seelen-Dorf verfügt über immerhin 700 Gästebetten. "Die Beschneiungsanlage hat den Wintertourismus im Ort gerettet", schätzt Hatt.

Aber nicht nur wegen der vielen deutschen Gäste ist Jungholz eng mit dem großen Nachbarn verbandelt. "Wir wachsen mit der deutschen Mentalität auf", sagt Hans Hatt. Kein einziger Jungholzer, der außerhalb des Dorfes arbeitet, tue dies in Österreich. Nun ja, fast: Denn der Postbote muss seine Sendungen täglich in Tirol abholen. Ansonsten zieht es die Pendler ins Allgäu, vor allem nach Kempten. Die Kinder der Gemeinde gehen in Deutschland auf weiterführende Schulen oder in die Lehre.

Das Nachbarland ist für die Jungholzer deshalb nicht nur als Arbeits-, sondern auch als Heiratsmarkt interessant. Jungholz hat den höchsten Anteil von nicht österreichischen EU-Bürgern in ganz Österreich. Zumeist handelt es sich um angeheiratete Deutsche. "Zweistaatliches Denken ist für uns etwas ganz Selbstverständliches", sagt Bernhard Eggel, der Ortschef von Jungholz, "es ist eine feine Sache hier Bürgermeister zu sein." Gegenseitige Animositäten kenne man nicht. Als ehrenamtlicher Bürgermeister und hauptberuflicher Klärwärter wacht Eggel darüber, dass in Jungholz alles sauber abläuft. Der deutsche Fiskus hat daran allerdings seine Zweifel. Drei Banken gibt es in Jungholz - eine auffallend hohe Anzahl für ein sieben Quadratkilometer großes Provinznest mit knapp 300 Einwohnern.

Schuld daran ist das österreichische Bankgeheimnis. So brachte in der Vergangenheit manch Gast in seinem Koffer nicht nur dicke Winterbekleidung mit, sondern auch dicke Geldbündel, die er in einer der drei Banken bunkerte. Seit September 2009 reicht allerdings schon ein begründeter Verdacht deutscher Behörden auf Steuervergehen, um das österreichische Bankgeheimnis lüften zu können.

Bernhard Eggel hat dazu eine eindeutige Meinung: "Wenn der deutsche Staat so dumm ist und mit den Steuern seinen Bürgern auch noch das letzte Ersparte aus den Taschen zieht, kann ich es verstehen, dass die Leute ihr Geld gut und sicher anlegen wollen."

Während der Liechtenstein-Affäre und der Diskussion um deutsches Geld im Ausland blieb es um Jungholz relativ ruhig - vermutlich weil es sich bei den Bankkunden, anders als in Liechtenstein, in der Regel um Kleinanleger handelt.

Werner und Ingelore legen ihr Erspartes in etwas Habhaftem an: in einen feurigen Tirolerhut. Das ist die Spezialität der Schrofenhütte, sie besteht aus einem gusseisernen Topf, der die Form eines Tirolerhuts hat. Darauf wird Fleisch und Gemüse gegart. "Das kannten wir vorher nicht", sagt Ingelore, "die Tiroler wissen schon, wie man deftiges Essen zubereitet." "Aber beim Bier vertrau ich lieber den Allgäuern", witzelt Werner.

Die beiden Frührentner aus Schleswig-Holstein sind das zweite Mal in Jungholz. "Das erste Mal ist schon über dreißig Jahre her", erzählt Ingelore, "damals gab es hier weder österreichische Zeitungen noch österreichisches Fernsehen." Und vermutlich auch keine Zauberteppiche und feurige Tirolerhüte. "Aber Allgäuer Bier gab's damals auch schon", erinnert sich Werner, "das weiß ich noch wie heute."