Auf Safari in der Heimat von Shir Khan, Kaa und Baghira fühlt man sich hineinversetzt in Rudyard Kiplings weltberühmten Roman. Und meint, wie Mogli, die Tiere zu verstehen.

Meenakshi hat einen neuen Job und musste dafür nach Karnataka umziehen. Mit 54 ist das ein großer Schritt - aber jetzt hat sie es angenehmer, arbeitet fürs selbe Geld nur noch halbtags. Vorher war Meenakshi am Strand von Goa zu Hause, hat dort von morgens bis abends immer wieder geduscht, sich dabei bereitwillig fotografieren und manchmal sogar anfassen lassen. Sie ist ins Meer gestiegen, am Strand auf und ab gelaufen, hat fürs Fotografieren ein paar Rupien bekommen, die immer jemand anders für sie eingesteckt hat. Jetzt lebt die Dickhäuter-Dame als Hotel-Elefant am Kabini River weit im Binnenland des Subkontinents, duscht dort vormittags mit den Kindern der Gäste, lässt sie anschließend im Sattel Richtung Nagarhole-Nationalpark reiten - und dreht kurz vorm Dschungel wieder um, weil ihr Mahut es so will und es ihr so auch viel lieber ist.

Manchmal nur hört sie die wilden Elefanten aus dem Wald rufen, leise und aus weiter Ferne, wenn der Wind das Tröten herüberträgt. Zahlreich sind sie: Hunderte, viele mehr als Tiger und Panther zusammen. Sie trampeln durchs Dickicht von Indiens wildreichstem Nationalpark, pflücken Blätter, sind von den Safari-Geländewagen aus gut zu beobachten. Genau wie die Affen, die die Autos manchmal ein Stück des Weges begleiten - und sich offenbar zu festen Zeiten zur Menschen-Beobachtung in den Bäumen direkt an der Piste durch den Urwald verabredet haben und oftmals lautstark um die besten Plätze rangeln.

Irgendwo in diesen Wäldern wohnte Mogli mit Baghira, tanzte im Dschungel, sang auf den Lichtungen, sprach mit den Tieren der Wildnis. Vielleicht ist er hinter dem Vorhang aus Riesenbambus, aus Lianen und Laub noch immer zu Hause - und hat längst Enkel. Nur Balu der Bär ist ausgewandert. Denn Bären gibt es hier nicht mehr. Aber Tiger sind noch da, auch über 110 Jahre nach Rudyard Kiplings "Dschungelbuch", über 40 nach Walt Disneys Zeichentrick-Kinoversion der Abenteuer des kleinen Jungen aus dem Urwald - so viele wie kaum irgendwo anders in Indien: Etwa 80 Tiger leben im Nagarhole-Nationalpark, mehr noch im unzugänglicheren angrenzenden Bandipur-Nationalpark. Nur 1200 sollen es in freier Wildbahn im ganzen Land insgesamt sein.

Es ist still in den Nationalparks am Kabini River, der aus Kerala kommt, im Nachbar-Bundesstaat Karnataka gestaut wird und sich in den Weiten Südindiens verliert, ohne je irgendwo zu münden. Von den Bäumen hängen allenthalben grüne Girlanden, bilden dichte Vorhänge, verhindern jeden Blick mehr als zehn Meter hinein in den Wald.

Es riecht diesen Morgen ein bisschen nach Schiffsdiesel auf dem breiten Fluss, und es ist, als ob das Safari-Boot den Frühnebel mit dem Bug vorsichtig in die Kulissen schiebt.

Unmittelbar bis ans Ufer reicht die grüne Wand und verliert sich in Mangroven. An manchen Stellen sind Schilf und Bambus heruntergetrampelt, und dennoch hat noch nie ein Mensch den Boden dort betreten. Es sind die Elefanten des Waldes, die zum Trinken und Baden hierherkommen, Meenakshis fremde Verwandte. Und es sind die wenigen Panther aus Baghiras Nachkommenschaft und Shir Khans Gesellen, die Tiger. Am größten sind die Chancen frühmorgens oder spätnachmittags in der Dämmerung, sie hier zu sehen - besonders in den Monaten April und Mai, wenn die Wasserstellen im Urwald weitgehend ausgetrocknet und die Tiere deshalb gezwungen sind, ans Flussufer zu kommen.

Der Wald ist menschenleer, denn selbst die Dschungel-Ureinwohner vom Stamm der Kuruba mussten schon vor Jahren in neue Dörfer außerhalb der Nationalparkgrenzen umsiedeln, können dort Ackerbau treiben - aber dürfen kein geschütztes Wild mehr jagen. Ihre Götter sind in den Wäldern geblieben, und in den Augen der alten Kuruba-Leute kann man noch heute die Erinnerungen an das Leben im Wald lesen.

Auch die Safari-Lodges für Urlauber, die gerade erst anfangen, Indien mit seinen alles in allem 54 Nationalparks als Alternative zu den Tierparadiesen Ostafrikas wahrzunehmen, dürfen nur außerhalb der Schutzgebiete errichtet werden. Der Dschungel gehört jetzt allein den Tieren - Besuch ist nur innerhalb einer schmalen festgelegten Zone, nur auf offiziellen Pisten und nur während des Tages erlaubt.

Äcker enden plötzlich, Kaffeeplantagen sind hier in Süd-Karnataka scharf gegen den Dschungel abgegrenzt, als hätte jemand mit dem Lineal eine kilometerlange Grenze der Nationalparks gezogen, die weder das Dickicht von der einen noch der große Nutzgarten von der anderen Seite überwinden darf. Wald duckt sich an die sanften Hügel, ist nicht übermäßig hoch, aber unwahrscheinlich dicht.

Dumpfe Rufe gellen plötzlich durch den Tag, klingen wie seltsam elektronisch verstärkt - und kommen aus den Kehlen zweier Affenmännchen, die einander herausfordern: Sekunden später klatschen Zweige, wischen Blätter über den Himmel, herrscht Unruhe in den Baumkronen. Die beiden kämpfen. Und als wollten sie den einen oder den anderen anfeuern, kommen aus dem gesamten Umkreis immer mehr Affen durch die Kronen herbeigesprungen, jubeln, stöhnen als kommentierten sie jede Attacke genau. So plötzlich der Streit begann, so schnell ist wieder Frieden geschlossen. Die Stille ist zurück, ein paar Kraniche steigen auf, und tief unten gleitet ein Krokodil aus der Deckung ins Wasser. Es wartet auf Hirsche und Wildschweine, die zum Trinken kommen.

Nagarhole ist mit seinen 645 Quadratkilometern fast so groß wie Hamburg, Bandipur mit 880 Quadratkilometern sogar größer: nichts als Natur, ein Zoo ohne Gitter und ohne Scheiben. Trotzdem schauen sich manche der Besucher die Wunderwelt nur durch Glas an, als suchten sie dahinter Schutz: Ständig haben sie ihr Fernglas oder die Linsen von Foto- oder Videokamera vor den Augen, statt mal daran vorbeizuschauen. Es würde sich lohnen.

"Tiger, Tiger!", zischt plötzlich Wildnisführerin Dina Nisheer auf dem Beifahrersitz des offenen Geländewagens, springt auf, deutet in Richtung Bambuswäldchen. Mit dem Zeigefinger auf den geschlossenen Lippen deutet sie an: Lieber mucksmäuschenstill jetzt! Es raschelt. Dürre Äste irgendwo im Gebüsch knacken. In der Ferne rennen Hirsche davon. Ein Affe kreischt und verschwindet, die anderen werden unruhig, halten dann wieder inne. Und Momente später ist alles wie vorher. Shir Khans Nachkomme hat es sich offenbar anders überlegt und ist wieder im Wald verschwunden. "Es gehört viel Glück dazu", sagt Dina, "wirklich einen zu sehen. Alle zwei, drei Wochen klappt es."

Meenakshi sind Tiger egal. Sie hat noch nie einen gesehen. Sie will wahrscheinlich gar keinen sehen. In Goa gab es keine, und hier am neuen Arbeitsplatz sind es bloß die fremden Kumpel im Wald. Sie folgt ihren Rufen nicht: weil sie keine Karotten mehr zugesteckt bekäme, dafür ihren Mahut Mohan verlassen und weil sie auf die Nähe der Menschenkinder verzichten müsste. Vielleicht ist manchmal Mogli dabei, sitzt mit im Sattel - mit Jeans und T-Shirt, mit Stirnband und Armbanduhr, angepasst an die neuen Zeiten. Aber mit denselben Träumen und Sehnsüchten. Und mit dem Talent, mindestens in Gedanken mit den Tieren sprechen zu können.