An den meisten Orten geht es um ein Leben in Harmonie, Glück, Meditation, Stille und das Streben nach Vollkommenheit.

Kyoto. Der Vorhang geht auf, Herr Matsuyama schiebt die weißen Papierwände beiseite. Ein Moment wie im Theater. Draußen ist der Garten zu sehen. Es regnet. Aber auf der Bühne sitzen wir selber und Herr Matsuyama. Der Mönch trägt dunkle Kleidung, er begrüßt die Gäste im Tempel Taizo-in, der wiederum einer von 40 Untertempeln des Myoshin-ji-Zenklosters ist. Stille und Ruhe, darum geht es. Herr Matsuyama spricht leise über Meditation, über tiefes Ein- und Ausatmen, über ein volles Herz und Reinheit. Er zündet ein Räucherstäbchen an, das 15 Minuten lang brennen wird, schlägt die Glocke und ein Holz, dann ist jeder mit sich selbst alleingelassen. Einatmen, ausatmen. Nicht die Augen schließen. Die Besucher versuchen gerade zu sitzen, keine leichte Sache. Zeit vergeht. Interessant, wie die Blätter im Garten sich unter dem Regen bewegen.

Der steinerne Garten des Taizo-in ist berühmt, ein Maler gestaltete im 16. Jahrhundert das kleine Areal nach Zen-Prinzipien. Wie ein dreidimensionales Gemälde erzählen die Steine, Pflanzen, Bäume etwas über das Leben, über Einkehr, Harmonie und Streben nach Vollkommenheit.

Der Mönch hat aber auch irdische Lektionen parat. Wem der Rücken schmerzt während der Meditation, darf sich verbeugen. Herr Matsuyama kommt dann mit dem "Stock der Gnade", einem eineinhalb Meter langen Stab mit flachem Ende. Er verbeugt sich ebenfalls. Der Rückenleidende beugt sich nach vorne, der Mönch schlägt mit dem Stock heftig auf die Schulter. Zweimal rechts, zweimal links. Der Knall unterbricht die Stille. Es brennt, löst aber die Verspannung sofort. Selten sind 15 Minuten so schnell vergangen. Kyoto, die alte Kaiserstadt Japans, ist wie geschaffen für geistige Lektionen. Der Spaziergänger stolpert ständig über fremde Ideen und andersartige Lösungen. Japan ist anstrengend, Japan ist herausfordernd. Der Europäer taucht ein in die Welt aus Kontemplation und Bedeutung, Tradition und Kultur. Und vieles verwirrt. Das stilisierte, strenge Leben mit seinen Ordnungshierarchien baut sich vor dem Besucher turmhoch auf. Doch soll man die Realitäten des Alltags nicht ausblenden. Daiko Matsuyama, der Mönch, ist beispielsweise im Myoshin-ji geboren und aufgewachsen. Er arbeitet im Kloster. Dennoch wird er nächste Woche heiraten, er hat an der Universität studiert und ist ausgebildeter Sake-Experte. Allzu mönchisch ist das nicht. 80 Prozent der Japaner sind Shintoisten und Buddhisten zugleich, aus dieser weisen Vielfalt erwächst Pragmatismus.

Kyoto hat eine große Geschichte, im Jahr 794 ließ der Kaiser den To-ji-Tempel bauen, da war die Stadt gerade neu als Heian-kyo, "Hauptstadt des Friedens und der Stille", gegründet worden. Der mächtige Shogun Tokugawa Ieyazu, der noch als Puppe im weiten Thronsaal der Nijo-Burg sitzt, verließ Kyoto 1600, als er zum großen Militärpatriarchen aufgestiegen war. In Edo, das später Tokio genannt wurde, nahm die Tokugawa-Periode ihren Anfang. Trotzdem überstrahlt der Glanz Kyotos alles.

Niemand weiß so genau, wie viel Tempel und Schreine und alte Stätten es gibt, mindestens 1800, doch manche sprechen von mehr als 2000, und das mit gutem Grund. Aber die Gegenwart ist grau, die Präsenz von trister Beflissenheit. Die meisten Ankömmlinge am Bahnhof reagieren erst einmal schockiert vor so viel Hektik und lärmender Modernität. Dies ist die unzerstörte Stadt voller Sehenswürdigkeiten?

Ja, sie ist es. Es gibt ein Stück der französischen Band Air mit dem Titel "Alone in Kyoto". Zwitscherklänge heben an, sanft wird gezupft, Synthesizer führen die Melodie. Allein sein, einsam sein und spazieren im Regen, das ist ein seltsamer Traum. Im Film "Lost in Translation" geht Scarlett Johansson durch Kyoto und besucht die Tempel und Paläste, sie staunt stumm über den Garten am Heian-Jinju-Schrein.

Die Wirklichkeit ist natürlich ganz anders. Die gute Nachricht: Tempel, Schreine und Gärten sind tatsächlich da. Und sie sind zauberhaft. Beinahe zwangsläufig überkommt eine tiefe Zufriedenheit den Besucher. Insbesondere die Gärten mit ausgeklügelten Bedeutungsebenen und reizenden Blickwinkeln prägen das Bild. Zen und die Kunst, Gräser zu drapieren.

Im Oktober und November färben sich die Ahornblätter orange und rot, das ist neben der Kirschblüte im April die zweite große Reisezeit. Doch niemand hat die Attraktionen Kyotos für sich, egal zu welcher Jahreszeit. Überall wandern Heerscharen japanischer Touristen umher, besonders viele Schulklassen, und kaum jemand schert sich hier um Ruhe.

Wir gehen im Osten der Stadt den Hügel hoch, um zum Tempel Kiyomizu-dera zu kommen. Sobald die Dichte in etwa wie beim Start eines Marathons ist, ist das Ziel erreicht. Die Haupthalle steht auf riesigen Holzpfeilern über dem Abhang, von dort haben sich früher junge Liebende 13 Meter in die Tiefe gestürzt, weil ihnen alle Wünsche erfüllt werden sollten, wenn sie überlebten. Im 19. Jahrhundert dämpften wohl Büsche den Aufprall. Die Statistiker wissen von 14,6 Prozent Fehlsprüngen. Heute verhindert eine Schranke das Schlimmste, aktiv werden Besucher nur am Otowa-Wasserfall. Das Wasser rinnt in drei Strahlen über Steine und fällt in ein großes Bassin. In langen Schlangen stehen Schüler und Erwachsene, um ein paar Schlucke davon in Schalen aufzufangen und sich die Hände zu waschen.

Hinter der Tempelanlage Kiyomizu wartet eine perfekte Attraktion für junge Mädchen. Dort wird dem Gott Okuninshi no Mikoto gehuldigt, der auch für Liebe und Ehe zuständig ist. Die wahren Begehrlichkeiten sind gar nicht so spektakulär. Hier geht es um zwei Steine, die Liebessteine, die recht unscheinbar herumstehen. Vorne posieren Teenies in Schuluniform, sie recken die gespreizten Finger und grinsen. Hinten am anderen Stein wartet nervös ein Mädchen, ihr großer Moment wird gleich kommen, muss kommen, muss gelingen. Sie hat blondierte kurze Haare und trägt eine lilafarbene Steppweste. Manchmal hält sie die Finger zur Probe vors Gesicht. Die ganze Zeit tritt sie vom linken Fuß auf den rechten. So viel steht auf dem Spiel.

Die Sache ist die: Wer mit verschlossenen Augen von einem Stein zum anderen Stein gehen kann und ihn berührt, wird die wahre Liebe finden. Den richtigen Partner. Die ewige Liebe. Aber die Prüfung ist nicht leicht, fast alle Mädchen kommen vom Weg ab, o weh, fast wie im richtigen Leben. Sie verlassen in Blindheit die Bahn und stoßen auf unerwartete Hindernisse. In den meisten Fällen führen Freundinnen die Liebessucherinnen. Oder Verwandte leiten und dirigieren per Zuruf. Das Lila-Westen-Mädchen aber ist allein. Und der Weg versperrt. Sie wartet. Linker Fuß, rechter Fuß.

Im Grunde ist der Weg zwischen den Liebessteinen ein Zen-Ritual und zugleich albern. Man muss daran glauben. Alles in Kyoto kann etwas bedeuten und doch Oberfläche sein. Vergangenheit und Gegenwart sind ineinander verschlungen. Nicht umsonst kommen die Pokémons von hier, die kleinen Monster, die Kinder ob ihrer Kampfeigenschaften verzücken. Pokémon ist dem Reichtum der Shinto-Götter und mythischen Geiste und Dämonen nachgebildet. Kulturgeschichte und Popkultur gehen Hand in Hand.

Jetzt ist der Weg frei. Das Mädchen schließt die Augen, schlägt die Hände zusätzlich vors Gesicht und geht. Nach ein paar Schritten driftet sie nach links ab, das Mädchen wird langsamer, es tastet nach dem richtigen Weg. Da nimmt sich der Besucher aus Europa ein Herz und ruft ihr leise zu, sie möge ein Stück nach rechts gehen und vorwärts. Das Mädchen traut sich. Gemeinsam gehen wir zum Liebesstein, das Mädchen trifft nach zwei langen Minuten mit dem Turnschuh ans Ziel. Sie wird ihren Liebsten finden, bestimmt. Sie lacht erleichtert, als wäre ihr ein Stein vom Herz gefallen, der größer ist als die zwei Liebessteine.

Kleine Weisheiten, große Wirkung. Wir gehen über den Philosophenweg, nach einem Denker benannt, der hier spazierte. Ein Kanal fließt unter Bäumen. Im Wald liegt der Tempel Honen-in. Ein Tempeltor, ein Garten. Am Eingang sind Sandhügel aufgeschichtet, in die jeden Tag die Zeichen der Vergänglichkeit gezeichnet werden, Wellen und Blätter.

Mittendrin aber steht die bezaubernde Entdeckung. Nämlich ein Brunnen. Ein feiner, unscheinbarer Brunnen, doch anders als die Becken, die in jedem Tempel stehen. Dieser ist ein hohes, steinernes Gefäß, es steht auf einem niedrigen Podest, drumherum Wasser. Der Rand des Gefäßes ist vorne abgeflacht, darin liegt ein faustgroßer Stein, und unter den Stein hat jemand ein grünes Blatt gelegt. Das Wasser rinnt über das Blatt, nur so fällt es direkt in das Wasserbassin. Jeden Tag kommt ein Gärtner und tauscht das Blatt gegen ein neues aus.

Das ist Japan. Hier, jetzt. Das ist Kyoto. Zen, Veränderung, fließende Zeit. Leben und Natur. All das. So einfach und so tiefsinnig. Jeden Tag ein neues Blatt, um den Lauf des Wassers zu ermöglichen, mal ist es grün, mal rot, mal trocken. So vergeht das Jahr. Und der Mensch. Ach, Kyoto.