Die Idee, mit einem Miet-Drahtesel durch die quirlige Millionen-Metropole zu touren, klingt zunächst verwegen. Doch öffnen sich vom Sattel aus tatsächlich ungeahnte Blicke auf die frisch gekürte Olympia-Stadt 2016.

Rio de Janeiro. In offenen Jeeps fuhr die Gruppe gut gelaunt den Corcovado hinauf. Die Straße zur Christusstatue auf dem Gipfel führt in steilen Serpentinen neben der Strecke der roten Zahnradbahn durch dichten Urwald. Plötzlich fiel ein schwerer Gegenstand aus dem Blätterdach und landete mit einem Knall auf der Kühlerhaube des ersten Autos. Eine große Schlange war aus den Bäumen geplumpst. Zwar überlebte das Tier den Sturz, doch im Blech hinterließ es eine tiefe Beule.

Derlei Wildbegegnungen sind im Straßenverkehr der Metropole, die über wild wuchernden Dschungel verfügt, eher die Ausnahme. Doch tatsächlich ist die Fortbewegung in Rio de Janeiro mühsam. Zu viele Menschen sind unterwegs. Mit 1,4 Millionen Passagieren im Monat ist die U-Bahn nicht die Stütze des Systems. Die Cariocas fahren Auto. Sie stehen im Stau, kämpfen sich durch Tunnel ohne Standstreifen, quälen sich im Schritttempo über die Küstenstraße, vorbei an Stränden, die aussehen wie aus dem Prospekt. Die Idee, das Fahrrad zur Fortbewegung zu nutzen, ist in Rio trotz dieser Widrigkeiten neu - wohl auch wegen der Gefahren durch Automassen und Risikobereitschaft der Verkehrsteilnehmer. Dabei sprechen ruhige Nebenstraßen und die Vielzahl Schatten spendender Bäume durchaus fürs Rad.

Im Dezember 2008 wurden die ersten acht Fahrradstationen an der Copacabana und ihren U-Bahn-Stationen eröffnet. 14 Räder sind an jeder verankert. Wer eins leihen will, muss sich im Internet registrieren - Einheimische mit der Steuer-, Urlauber mit der Reisepassnummer. Man erhält einen Zugangscode und kann damit ein Rad auslösen. Zehn Real, etwa drei Euro, kostet der Tagespass. Das ist preiswert, doch die Stadtverwaltung hat das System mit einem Schönheitsfehler versehen: Damit die Räder sich nicht allzu weit entfernen und womöglich in einer Favela enden, müssen sie zwischen 6 und 22 Uhr alle 30 Minuten in einer Station angedockt werden, wo ihr Chip registriert wird. Für jeden verpassten Stopp werden drei Real, etwa ein Euro, zusätzlich von der Kreditkarte abgebucht.

Wie den Cariocas so aufs Fahrrad geholfen werden soll, weiß auch Carlos Pinheiro nicht recht, dessen Technologie-Firma das Projekt für die Stadt entwickelt hat. "Die Menschen sollen erfahren, dass Radeln nicht nur Spaß macht, sondern das Auto ersetzen kann", sagt er. Der regelmäßige Boxenstopp erzwinge aber eine Entschleunigung, die kaum praktikabel sei. Einfacher haben es Urlauber: Wer genug hat, lässt sein Rad an der nächsten Station stehen. Bis dahin macht man alle halbe Stunde Pause, um eine Kokosnuss auszuschlürfen.

Vier Kilometer misst die Copacabana, etwas länger ist der Abschnitt von Ipanema und Leblon, der sich jenseits des Felsens Arpoador anschließt. Hier, ebenso wie rund um die Lagune Rodrigo de Freitas und im Flamengo-Park, sind Radwege angelegt. Und was für welche. Zwei Spuren regeln den Verkehrsfluss. Im Pflaster nehmen geschwungene Wogen aus Kalksandstein und Basalt die Wellen des Ozeans vorweg: ein Werk des Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx, der das Wesen der Stadt genau erfasste. Zusammen mit Oscar Niemeyer ist er für Rios Tropen-Ästhetik aus geschwungenem Beton verantwortlich. Anderswo mögen Hochhäuser hässlich sein. Inmitten der Farbexplosion aus blauem Meer und Himmel, samtgrünen Bergen und üppiger Vegetation wirken sie wie der Beweis, dass die Gegenwart gut ist, aber die Zukunft noch besser wird.

Sonntags ist die Avenida Atlântica, die Küstenstraße an der Copacabana, für Autos gesperrt. Wer nicht radelt, der spaziert oder trifft sich an den in Kilometerabstand errichteten Badehäusern. Auch auf den Radweg greift das Treiben über. Und trotz einer Hand in Klingel- und einer in Bremsbereitschaft zeigt sich: Umweht von warmer Meeresbrise, mit dem Panorama aus Art-déco-Fassaden zur einen und dem einzigartigen Strand-Ballett der Cariocas zur anderen Seite, hat man vom Fahrradsitz aus den schönsten Blick auf Rio - nach der Aussicht vom Corcovado jedenfalls.

Viel Gepäck solle man nicht mitnehmen aufs Rad, so wird stets gewarnt. Am Strand, der wie der Karneval und das Fußballstadion ein Schmelztiegel aller Bevölkerungsschichten ist, sei nichts sicher. Tatsächlich bildet sich auf der Höhe des Caesar Park Hotels in Ipanema, wo Ronaldinho absteigt und Madonna und Liza Minnelli sich bei Gastspielen in der Suite im obersten Stock einmieten, ein Mob. In seiner Mitte steckt ein junger Mann, dem ein Rucksack entrissen wird. Allerdings, so stellt sich heraus, ist der Niedergestreckte nicht Opfer, sondern Täter: Einem in der Sonne dösenden Urlauber hat er den Rucksack entwendet und ist davongerannt. Eine Masseurin des Hotels hatte den Vorfall beobachtet und die Umliegenden mobilisiert.

"Die Strände halten Rio zusammen", erklärt Gionia Belmonte. Zierlich, blond und gebräunt sieht sie auch mit 47 Jahren ganz aus wie ein "Girl from Ipanema". Gionia wohnt zwei Straßen vom Strand entfernt, arbeitete früher als Stewardess und heute als Reiseleiterin. Von der integrativen Kraft der Gratis-Freizeiteinrichtung Strand ist sie überzeugt. Wenn hier nicht jeder die Möglichkeit hätte, an 80 Kilometern prachtvoller Strände Atem zu schöpfen von einem Leben, das den Großteil der Bevölkerung sehr harsch behandelt, hätte das soziale Ungleichgewicht die Stadt womöglich längst zum Implodieren gebracht. Doch auch wenn das Wetter meist zu schön ist, als dass man ernsthaft aufbegehren wollte, müssen die Bewohner der Favelas sehen, wie sie durchkommen. Damit sie sich ihr Geld nicht direkt bei den Touristen abholen, stehen vor den Hotelpalästen an den Stränden jede Menge bewaffnete Sicherheitskräfte.

In Leblon, wo die Küstenstraße zur Avenida Niemeyer wird, spielen Kinder in der tiefen Nachmittagssonne Fußball. Es ist Zeit, vom Sattel in den Stuhl einer Bar zu wechseln und sich zu berauschen: an der wilden Stadt vor weißem Sand und blauem Meer.