Von September bis Ende Oktober machen an der Nordseeküste Millionen Zugvögel Rast auf dem Weg nach Süden. “Schwarze Sonne“ nennen die Dänen dieses Naturschauspiel.

Zehntausende, hunderttausende Stare fliegen in einem riesigen Schwarm vor der untergehenden Sonne Westjütlands. Ziehen von links nach rechts. Verdunkeln sich zu einer einzigen Wolke, um nur Sekunden später in einem breiten Band den Horizont entlang zu ziehen.

Aus der Ferne kommen neue Schwärme herbei, schließen sich ihren Artgenossen an. Wenige Minuten später ist das Schauspiel vorbei, nur ein vielstimmiger Gesang weht von Wiesen und Feldern herüber - bald herrscht Nachtruhe im dänischen Marschland.

"Sort sol", schwarze Sonne, nennen die Dänen das spektakuläre Naturschauspiel, das vor allem die Stare alljährlich im September und Oktober zwischen Tønder unweit der deutsch-dänischen Grenze und dem knapp fünfzig Kilometer weiter nördlich gelegenen Ribe aufführen. Rund eine Million Stare und hunderttausende andere Zugvögel wie Kiebitze, Gänse, Kraniche, Watvögel und viele andere versammeln sich dann auf den feuchten, frisch geernteten Äckern zwischen Deichen und Festland, um sich vor ihrem weiteren Weg nach Süden noch das nötige Reisegewicht anzufressen.

Treffpunkt Parkplatz in Skærbæk. Kurz vor achtzehn Uhr versammeln sich knapp 100 Natur-Neugierige zur abendlichen "Sort sol"-Tour. Denn wer das faszinierende abendliche Ballett der Stare erleben möchte, braucht nicht nur gutes Wetter und viel Glück - sondern auch einen (Natur-)Guide. "Die Stare fliegen jeden Tag aufs neue 75 bis 100 Kilometer weit weg auf der Suche nach Futter. Und man weiß nie ganz genau, wo sie sich kurz vor Sonnenuntergang wieder treffen", erklärt uns Lau Nørgaard. Der ausgebildete Ranger (dänisch: "Naturvejleder") vom Spezialveranstalter Sort Safari besitzt die nötige Erfahrung: Seit rund zehn Jahren begibt sich der Mittsechziger Abend für Abend im Herbst - und im Frühjahr - auf Vogelexkursion.

Heute Abend dirigiert der weißbärtige Nørgaard unseren Bus Richtung Deiche und Rømødamm nach Westen. Schon unterwegs deutet der Experte immer wieder auf die braun-grünen Äcker links und rechts: "Seht ihr, dass fast überall Vögel sitzen? Man muss genau hinsehen - die Felder leben." Wir schaukeln weiter über Feldwege, dann gibt es für den Bus kein Weiterkommen. Ein guter Kilometer Fußweg liegt noch vor uns bis zu jener Stelle, an der der Südjüte heute die meisten Stare erwartet. Die Hoffnungen auf unvergessliche Eindrücke steigen - doch "eine Garantie, dass wir überhaupt Stare sehen, gibt es nicht", schränkt Nørgaard aus Erfahrung ein.

Heute umso weniger: Es weht ein starker Westwind und der Himmel ist bewölkt. Wir stehen auf einem Damm und halten Ausschau. Richtung Meer. Richtung Binnenland. "Dort", zeigt Lau Nørgaard nach Norden, "dort kommt ein erster Schwarm." Tatsächlich nähert sich uns eine schwarze Wolke, fliegt in einem weiten Bogen nach Westen, wo sie sich niederlassen. "Und da sind noch mehr" - Nørgaards geschulter Blick entdeckt die Zugvögel lange vor uns Laien. Das abendliche Ritual folgt einem festen Schema, erklärt der Biologe: "Erst treffen kleine Gruppen von Staren ein, dann größere. Sie versammeln sich zu Hunderttausenden zur Nachtruhe." Auf unsere fragenden Blicke folgt Nørgaards Erklärung: "Mit ihrem Gewicht von 75 bis 90 Gramm bilden Stare eine ideale Beute für Raubvögel - doch gemeinsam sind sie stark." Angriffe ihrer natürlichen Feinde sind auch der Grund für die manchmal minutenlangen Flugformationen der Stare, die sich plötzlich zu einem großen Ball zusammenfinden, dann aber wieder weite Bögen bilden. So sollen Greifvögel irritiert und abgeschreckt werden. "In solchen Momenten wünsche ich mir manchmal, ein Rotkehlchen zu sein. Dann könnte ich selbst hochfliegen und Stare in Augenhöhe beobachten", sagt Nørgaard. So helfen uns nur Fernglas und Teleobjektiv, die gebannt auf den Himmel gerichtet sind.

Gleichmäßiges Flügelschlagen durchtönt den Wind und unterbricht unser andächtiges Schweigen - doch es sind "nur" Gänse, die in ihrer typischen V-Form vorbeifliegen. Wenig später dann wieder ein großes Knäuel: "Wieder eine Gruppe Stare!", deutet Nørgaard Richtung eines Bauernhofes. Etwa ein halbes Dutzend weitere Schwärme kommen im Lauf der nächsten halben Stunde hinzu. Insgesamt schweben heute rund 80 000 Stare zu ihrer Nachtruhe ein, während wir im Herbstwind die Sonne untergehen sehen, schätzt Nørgaard. Sie fliegen tief, so dass fast nur ein geschultes Auge die Singvögel mit ihrer dreieckigen Silhouette in der Dämmerung über dem Erdboden erkennen kann. "Dass der Vogelzug oft nachts stattfindet ist auch der Grund, warum alte Sagen davon berichten, dass die Stare am Grund der Seen überwintern", weiß Vogelkenner Nørgaard. "Im Herbst verschwinden sie mit dem ersten Frost - und tauchen genauso plötzlich im Frühling wieder auf."

Die abendliche Ankunft der gefiederten Wandervögel folgt einem festen Ablauf, den wir genau beobachten können. Zunächst kommen kleinere Gruppen angeflogen, die sich im nahen Umkreis ihres späteren Schlafplatzes niederlassen. Ihnen schließen sich allmählich mehr und mehr Artgenossen aus allen Himmelsrichtungen an. Erst wenn die Gruppe zahlenmäßig stark genug ist, geht es gemeinsam zum Nachtlager in einem nahe gelegenen Wäldchen. Nørgaard vergleicht das Ritual der Tiere mit Allgemeinmenschlichem: "Jugendliche treffen sich am Wochenende ja auch erst mit wenigen Freunden, um loszuziehen und dann in der Disko anderen Freunden und Bekannten zu begegnen - dänische machen das zumindest so."

Da Raubvögel heute Abend nicht in Sicht sind, bleibt uns der echte Starentanz verwehrt: Staren-Glück ist Birdwatchers Pech. Das ganz große Naturwunder ist zwar ausgeblieben, viele kleine aber durften wir erleben. Ein Grund wiederzukommen, so wie die Stare. Die weit gereisten Vögel - die erst kurz vor ihrem Abflug nach Süden über ihr Reiseziel wie Frankreich oder Spanien entscheiden - werden durchschnittlich sieben, in Ausnahmefällen sogar weit über 20 Jahre alt: Zeit genug also für viele "schwarze Sonnen".