Gerade für die Nachsaison gilt, was auch den Dichter Gerhart Hauptmann ein Leben lang zwischen Bodden und Meer fasziniert hat: “... hier ist völliger Einklang mit der Natur.“

Vitte. "Hiddensee ist eines der lieblichsten Eilande, nur stille, stille, dass es nicht etwa ein Weltbad werde ..." Gerhart Hauptmann, 1899 Noch leuchten die Vogelbeeren rot und prall. Das Gras hinterm Strand ist trocken, aber es wirkt golden, wenn der Wind es wogen lässt. Die Früchte von Schlehen und Weißdorn sind reif, und die Beeren am Sanddornstrauch werden in diesen Tagen mühsam von Hand ausgepresst, gemolken, wie es auf Hiddensee heißt. Oft sind die Kraniche zu hören, wenn sie ihren Rastplätzen im Boddenschilf zustreben. Und auch die Wildgänse aus Skandinavien und Russland machen jetzt Station auf dem Söten Länneken, dem süßen Ländchen, wie die Insel sich gern nennen lässt. Hiddensee: gerade mal 20 Quadratkilometer groß, dreieinhalb Dörfer, jeweils nur wenige Kilometer voneinander entfernt und alle zusammen von knapp 1200 Menschen bewohnt. Und doch sind die Leute in Kloster und in der uralten Kleinsiedlung Grieben, hoch im Norden, mindestens so stolz auf ihren eigenen Charakter wie die Neuendorfer unten im Süden. Und beide sind sich einig, dass Vitte in der Inselmitte, mit 650 Einwohnern das größte Dorf und mit dem Sitz der Verwaltung so etwas wie die Metropole des Eilandes, nun wieder ganz was anderes ist.

Es war der Dichter Gerhart Hauptmann, der diese Insel auf die Landkarte gebracht hat. Schon Jahre bevor er 1912 den Nobelpreis für Literatur bekam, verbrachte er Sommer für Sommer - und besonders gern auch die frühen Herbstwochen - auf Hiddensee. Ende Juli 1885 kam er zum ersten Mal und war fasziniert: "... hier ist völliger Einklang mit der Natur". Aber erst 1930 kaufte er das Haus "Seedorn" in Kloster, das jetzige Museum und Kulturzentrum Gerhart-Hauptmann-Haus.

Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger und Carl Zuckmayer, Schauspieler wie Gustaf Gründgens, Otto Gebühr und der Stummfilmstar Asta Nielsen, auch Ernst Barlach, Billy Wilder, Albert Einstein, sie alle fühlten sich vom Zauber der Insel angezogen, von dem Hauptmann behauptet hat, dass er ihn jedes Jahr aufs Neue verjünge. Deshalb mochte er sich auch keinen schöneren Ort für seine letzte Ruhe vorstellen. Und so liegt der größte Stein des Friedhofs von Kloster, direkt neben der sehenswerten kleinen Inselkirche, auf dem Grab des wohl wortmächtigsten aller ehemaligen Stammgäste. Im Hauptmann-Haus sorgt heute Franziska Plötz, die neue, junge Direktorin für frischen Wind. Sie veranstaltet Konzerte und Lesungen, längst nicht mehr nur aus Hauptmanns Werken. Grass war hier und kürzlich erst Uwe Tellkamp, dessen "Turm" auch auf Hiddensee viel Zuspruch fand. Und sie freut sich, dass heute wieder, wie damals, Hauptmanns Lieblingswein aus Ihringen am Kaiserstuhl im Keller des Hauses "Seedorn" lagert und den prominenten Künstlern unserer Tage angeboten werden kann.

Ein paar Schritte von Haus "Seedorn" entfernt hat Henry Engels seine Werkstatt. Dichter ist er nicht, aber auf seine Art auch ein Künstler. Wenn er vom Gold der Ostsee, von den Tränen der Götter erzählt, bleibt kein Auge trocken. Henry, gelernter Landmaschinenschlosser, ist Bernsteinsammler, Bernsteinschleifer, Bernsteinmagier. Wahrscheinlich ist er derzeit der einzige Insulaner, der sich auf den November und die Wochen danach freut, auf die Zeit der Stürme und Orkane: "Wenn der Wind so richtig hart aus Nordost bläst und das Wasser hochdrückt, dann sammeln wir eimerweise, wovon wir in den Sommer- und Herbstmonaten gut leben." Henry Engels schleift, poliert und bearbeitet den Bernstein von eigener Hand, lässt sich immer wieder neue Schmuckkreationen einfallen und freut sich, dass Sohn Ole, 5 Jahre alt, den Zauberstein am Strand auch schon "riecht".

Vitte, etwas betriebsamer als die anderen Dörfer, ein paar mehr Souvenirläden, ein paar mehr Restaurants. Manche kommen wegen der legendären Blauen Scheune, die einmal das Atelier von Malerin Henni Lehmann und später ihres Kollegen Günter Fink war. Beide sind längst verstorben, das Haus ist mit Efeu zugewachsen, der einst idyllische Garten weder zugänglich noch einsehbar. Viel mehr lohnt ein Besuch bei Jo. Harbort. Er stammt aus Sachsen, reist gern in der Weltgeschichte herum und kommt, wie damals der alte Hauptmann, immer wieder nach Hiddensee zurück, seit 40 Jahren schon. Harbort ist Bildhauer, seine Werkstatt ein Platz in der Dorfmitte, unter dem weiten Himmel von Hiddensee. Dort schnitzt er zurzeit an 38 Stühlen für das Orchester der Robert-Schumann-Stadt Zwickau. Zwischendurch schweißt er ein bisschen an freien Entwürfen für Metallskulpturen und denkt auch durchaus fröhlich an den Winter. Denn Jo. Harbort, der viele renommierte Preise gewonnen hat, ist auch Eis- und Schneebildhauer. Und er ist ein begnadeter Erzähler, einer, dem es Spaß macht, mit anderen ins Gespräch zu kommen, ob Touristen oder Hiddenseer.

Neuendorf ist der südlichste Ort, den die Hiddenseer Fähren von Rügen aus ansteuern. Alle Häuser stehen hier in West-Ost-Richtung, um sich gegenseitig vor dem Wind zu schützen. Die 300 Einwohner rühmen sich des längsten Strandes auf der Insel Aber sie müssen auch zugeben, dass nirgendwo sonst auf Hiddensee der Wind heftiger weht als bei ihnen. Früher waren fast alle Neuendorfer vom Fischfang abhängig. Heute fahren nur noch fünf Männer mit eigenen Booten regelmäßig auf Hering, Dorsch, Flunder und in diesen Wochen auf Aal in die Ostsee. Wer sich für Reusen und Netze interessiert und für das einst harte Leben der Fischer, der muss sich von dem Rentner Günter Siebler durchs kleine Fischereimuseum führen lassen. Siebler war früher Rohrdachdecker, aber er ist oft mit den Nachbarn und mit seinem Großvater auf See gewesen. Er hat ein großes Herz, viel Humor und er schnackt gern, Augenzwinkernd erzählt er, dass dieses Museum noch bis vor Kurzem ein Treffpunkt der Fischer und ihrer Kumpel gewesen ist, also ausschließlich für Männer: "Frauen durften nur den Fresskorb vorbeibringen."

Auch Falk Majewski ist ein Original, aber eines von der zurückhaltenden Sorte. Am liebsten redet er mit seinen Hunden "Mira" und "Bine" und mit seinen Schafen. Zwölf Stunden am Tag hütet der Inselschäfer 450 zufrieden wirkende Tiere vom Typ Grauwolliges Pommersches Landschaf. Sein Revier ist die große Dünenheide zwischen Vitte und Neuendorf, eine Landschaft, die die meisten Neu-Hiddenseer überrascht: wellige Hügel, ein immer noch zartvioletter Teppich, aufgelockert von Bäumen und Sträuchern, durchzogen von Wander- und Kutschenwegen. Falk Majewski fühlt sich auch jetzt noch vom Morgengrauen bis in die Dämmerung draußen wohl. Die meisten anderen, die Insulaner und vorwiegend jene Gäste, die schon lange dazugehören, lassen sich zwar ganz gern mal durchpusten, hocken danach aber mindestens ebenso gern in gemütlichen Lokalen und steuern mit einem heißen Punsch aus Sanddornsaft gegen die erste Herbstkühle an.

Nein, ein Weltbad ist Hiddensee gottlob nicht geworden. Aber ein Kurzurlaub auf dem Söten Länneken mag "von Tag zu Tag frischer, heiterer, sorgloser" stimmen, wie Gerhart Hauptmann es so oft empfunden hat. Und wer in den Gästebüchern der Pensionen stöbert, wird auf manche Epigonen des großen Meisters stoßen. Da fasst, ein Beispiel nur von vielen, eine Urlauberin aus Berlin ihre Begeisterung für Hiddensee so poetisch zusammen, dass Hauptmann sicher sofort zugestimmt hätte: "Das Herz öffnet sich und der Seele wachsen Flügel."