Sie pfeifen auf die Ewigkeit: Die jungen Hauptstädter experimentieren im “künstlerischen Unterholz“ der Metropole und nutzen jede noch so kleine Lücke, die ihnen die historische Pracht lässt.

Angst vor Nähe hat hier niemand. Jungs mit Feinripp-Unterhemden und Pepita-Hütchen schmiegen sich an Mädchen mit Bob-Frisur und dickem Lidstrich, während Sophia Loren ihren "Mambo Bacan" säuselt, pfeift und manchmal schreit. Pärchen, die Sophias Enkel sein könnten, machen das "Fanfulla 101" in Roms neuem Bohème-Quartier Pigneto zu einer der In-Adressen der Stadt.

In der zum Kulturklub umgebauten Ex-Garage legt heute DJ "Mr. Twist" auf, italienische Schlager aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Weit nach 2 Uhr - und damit der Sperrstunde - gibt es nicht einmal Raum für einen Hauch von Distanz, doch die ist hier ohnehin nicht erwünscht. "Wie dieser Klub entstanden ist", erzählt Carolina Cutolo, "sagt viel über den Werdegang unseres Viertels." Die Schriftstellerin kennt das Quartier bis in den letzten Hinterhof. Vor neun Jahren ist die studierte Soziologin geflohen aus dem gutbürgerlichen Zuhause mitten in Roms vom Tourismus manchmal wie gelähmten centro storico, hinein in diese krause Ansammlung niedriger Arbeiterhäuschen, Kleinbürger-Villen und nüchterner Wohnblocks namens Pigneto. Hier lotet sie als Bloggerin das Intimleben ihrer Generation aus. "Pornoromantica", ihr erstes Buch, entwickelte sich daraus und stürmte 2007 die Bestsellerlisten des Landes. "Ohne die bizarren und saukomischen Begegnungen hier im Viertel", sagt sie, "wäre das alles nicht entstanden."

Als Carolina ihre Autorenlaufbahn begann, war Pigneto noch eine verschlafene Vorstadt. So tot, dass die späteren Gründer des "Fanfulla 101" ihre Partys zu Hause feiern mussten. Irgendwann reichte es den lärmgeplagten Nachbarn, und die Freunde machten eine stillgelegte Autowerkstatt zu ihrer Tanzhalle, in der nun auch Filme, Experimentaltheater und Live-Konzerte zum Programm gehören. Das schräge, von Ausfallstraßen eingequetschte Quartier beiderseits der Via del Pigneto hat sich in das trendigste Viertel von Rom verwandelt.

Es bewegt sich etwas in der zweieinhalb Jahrtausende alten Mutter aller Städte. "Rom scheint im neuen Millennium angekommen zu sein", lobt Carlotta Mismetti Capua, die Kulturkritikerin der römischen Tageszeitung "La Repubblica". Warum la città eterna so lange Probleme hatte mit der Moderne, liegt für sie auf der Hand: "Rom tut sich schwer damit, dich zu überraschen: Alles Neue muss sich ja gegenüber Berninis Kolonnaden oder dem Kolosseum behaupten." Erst die linksliberalen Lokal- und Provinz-Regenten der vergangenen 15 Jahre förderten moderne Kunst und Architektur mit Millionen. Besonders während der Amtszeit von Walter Veltroni, dem Vorgänger des seit Mitte 2008 amtierenden Bürgermeisters rechter Couleur, Gianni Alemanno, war am Tiber das Who's who internationaler Star-Architekten aktiv: Richard Meier erschuf die schneeweiß-strenge Umbauung des Ara-Pacis-Friedensaltars von Kaiser Augustus, Renzo Piano das neue Auditorium Parco della Musica mit seinen Muscheldächern, und Zaha Hadid verwandelte eine alte Kaserne in das avantgardistische Nationalmuseum für die Künste des 21. Jahrhunderts, kurz MAXXI, dessen Eröffnung ständig verschoben wird.

Plötzlich hatte aktuelle Kunst eine Lobby in der Stadt Caravaggios. Der Palazzo delle Esposizioni, Roms Ausstellungspalast für zeitgenössische Kunst, wurde total überholt und mit einem futuristisch-gläsernen Spitzenrestaurant gekrönt, wo Feinschmecker neue Ausblicke auf die Stadt genießen. Draußen aber, in den einstigen Randvierteln San Lorenzo, Garbatella oder Pigneto, hat sich parallel zur gesponserten Hochkultur der Innenstadt eine Art "künstlerisches Unterholz" entwickelt, wie es der Maler Claudio Evangelista nennt: Alternative Galerien zieren zuvor unauffällige Nachbarschaften; vor allem die centri sociali, selbst verwaltete Kulturzentren in einst besetzten Fabriken oder ehemaligen Kinos, wirken wie Katalysatoren für neue Kunst, Literatur und Musik. Der 30-jährige Evangelista, der seinen Unterhalt als Sonderschullehrer verdient, hat im Frühjahr mit Gleichgesinnten in einer ehemaligen Glasfabrik in Garbatella die "Laboratori Sotterranei" ("Unterirdische Laboratorien") eröffnet, wo zu Action Painting mit DJs und Videoinstallationen eingeladen wird. "Lange haben wir uns hier nach Berlin gesehnt, dieser unfertigen Weltmetropole, die an jeder Ecke zu schreien scheint: 'Mach was aus mir!'", sagt Evangelista und rumort mit seinen Farbtöpfen, "während Rom in seiner bleiernen Monumentalität ständig zu zetern schien: 'Rühr mich nicht an!' Das hat uns viel zu lange blockiert."

Pigneto war einst eine Vorstadt für Eisen- und Straßenbahner. Pier Paolo Pasolini drehte 1961 rund um die Nachbarschaftsbar "Necci dal 1924" seinen berühmten Film "Accattone"; Protagonisten waren die auf dem sozialen Abstellgleis verrohenden ragazzi di vita. Die Jungen zogen auf der Suche nach Arbeit fort. An ihre Stelle rückten Immigranten aus Afrika, Indien oder Bangladesch, die sich mit den Alten arrangierten - so gut, dass Pigneto heute als das Vorzeigeviertel für multiethnisches Zusammenleben gilt. Die Wende kam 2006. Unter der linksliberalen Regierung von Romano Prodi gab es erstmals Fördermittel für benachteiligte Stadtbezirke - unvorstellbar in heutigen Zeiten, wo Italien von einem selbstherrlichen TV-Tycoon und Rom von einem einst bekennenden Faschisten regiert wird. Schon versiegen die Subventionen für alles, was nach Kultur riecht, also nach Kritik.

Und doch machen neben verfallenen Hinterhöfen im Monatsrhythmus Designerläden und literarische enoteche auf, wo zu Literatur exzellente Weine kredenzt werden. Der alte "Vini-e-olii"-Wirt hat längst profitabel an einen Innenstadtgastronomen verkauft, der dort eine weitere Szenebar eröffnen will; unter dem römischen Aquädukt in der Via Nuoro hat Roms schrillste Galerie, "Dorothy Circus", Einzug gehalten; im "Circolo degli artisti" an der Via Casilina Vecchia treten häufig Independent-Bands auf, noch bevor sie international Furore machen. Grafiker, Architekten, Kreative sind erst mit ihren Büros, dann mit ihren Familien hergezogen. Bunt und lebendig ist Pigneto geworden, ein wenig neapolitanische Altstadt, ein bisschen Prenzlauer Berg.

Allerdings sind auch die Spekulanten schon da. Entlang der Isola pedonale del Pigneto, der zur Flaniermeile aufgehübschten Fußgängerzone, beginnen erste Edelsanierungen, eröffnen Trendrestaurants wie das "Primo", wo römische Starregisseure mit ihrer Entourage zu Preisen essen, wie man sie sonst an der Piazza Navona zahlt. Und man ist auch ein wenig alarmiert. Die movida angeheiterter Nachtschwärmer könnte den Anwohnern schon bald so zu schaffen machen wie in Trastevere oder in San Lorenzo, wo Mütter und Kinder vor Kurzem aus Protest gegen die Flaschenpartys grölender Studenten nachts ihre zentrale Piazza dell'Immacolata besetzten. "Schade, dass sich solche Tendenzen wiederholen. Unsere Viertel sollten voneinander lernen und Fehler vermeiden", sinniert Dokumentarfilmer Emanuele. Er arbeitet an einem Film, der die Metamorphose seines Quartiers dokumentieren soll. "Ich muss mich beeilen", sagt er, "der Wandel schreitet so rasend schnell voran, dass ich manchmal fürchte, ich komme zu spät."