Ruhrgebiet? Da denkt man zuerst an rauchende Schlote und Kohlegruben. Doch die Europäische Kulturregion 2010 hat auch viele grüne Seiten.

Duisburg. Nach fest kommt ab. Die leidvolle Erfahrung gilt auch in der Radstation in Herdecke an der Ruhr. Zweiradmechaniker Manuel möchte "nur" fix den Sattel meines Leihrades höherstellen - da reißt der Bolzen der Einstellschraube. Glück im Unglück: In den Tiefen der westfälischen Leihstation, die zum ruhrgebietweiten Verbund Revierrad gehört, findet sich ein schlachtreifes Stahlross mit der passenden Muffe. Nach einer Stunde Sonntagsarbeit schickt uns der freundliche Spanier mit den Worten "Das ist mir wirklich noch nie passiert" auf den Weg. Fast wäre unsere "Tour de Ruhr" noch vor dem Start gescheitert.

Die Ruhr, die Europas größter Industrieregion im 19. Jahrhundert ihren Namen gab, mäandert still zwischen weiten Wiesen und grünen Bäumen dahin. Unser Ziel ist der Ruhrtalradweg - er folgt der Ruhr von ihrer Quelle bei Winterberg im Sauerland über insgesamt 230 Kilometer bis nach Duisburg, wo sie in Europas größtem Binnenhafen in den Rhein mündet. Ob man dem Flussradweg in ganzer Länge oder in Teiletappen folgt, ist Zeit- und Ansichtssache. Wir möchten das "echte" Revier erleben und entscheiden uns für zwei je 60 Kilometer lange Tagesreisen zwischen Hagen und Duisburg.

Kaum losgeradelt, folgt der erste Fotostopp: In zwölf Bögen überspannt das imposante Eisenbahnviadukt von Herdecke auf über 300 Metern Länge die Ruhr, erbaut 1879 von der Rheinischen Eisenbahn für die Strecke Düsseldorf-Dortmund. Hinter der nächsten Kurve schimmert ein See - der drei Kilometer lange Harkortsee ist einer der vielen Stauseen entlang der Ruhr. Angelegt 1931, speichert er rund drei Millionen Kubikmeter Wasser zur Trinkwasserversorgung. Das Schicksal der weiter nördlich fließenden Emscher, die schon früh zur Entsorgung von Abwasser und Grubenwasser herhalten musste, blieb der Ruhr erspart.

Durchs grüne Paradies des Wengerner Naturschutzgebietes erreichen wir die "Wiege" des Ruhrgebiets. Das Gruben- und Feldbahnmuseum der früheren Zeche Theresia unterhalb von Schloss Steinhausen gibt an Wochenenden Besuchern die Chance, mit einer der 90 Loks und 200 historischen Waggons mitzufahren. Gleich um die nächste Ruhrbiegung liegt die Zeche Nachtigall, in der schon ab 1714 Kohle abgebaut wurde - bis zu ihrer Schließung 1892 war die heutige Zeugin der Industriekultur eine der größten Zechen im Ruhrgebiet. Nach einem kurzen Rundgang durchs Museum und zum spannenden Nachtigall-Stollen radeln wir weiter ins Muttental: Der Sage nach soll genau hier im Mittelalter ein Schweinehirte die Kohlenlager entdeckt haben, als er ein Feuer entzündete, das auch ohne Holz weiterbrannte.

Von den im wahrsten Sinn des Wortes knochenharten Zeiten der frühen Bergbaugeschichte sind auch im weiteren Verlauf unserer sonnigen Radtour immer wieder Zeitzeugen sichtbar. Etwa am Kemnader See, den wir nach dem erneuten Überqueren der Ruhr mit der Rad- und Fußgängerfähre bei Hardenstein passieren - am Ende eines der größten Freizeitgebiete zwischen Gelsenkirchen und Bochum deuten einmal mehr Stollenschächte und eine Grubenbahn den dunklen Weg zur Kohle an.

Dann folgt ein kurzer Abstecher hinauf zur Dorfkirche in Bochum-Stiepel - das Gotteshaus mit sehenswerten romanischen und gotischen Kalkmalereien wie der Flucht aus Ägypten hat es sogar schon bis auf eine Briefmarke geschafft. Wir aber radeln vorbei am Industriemuseum Henrichshütte hinauf nach Hattingen: Das "Rothenburg des Ruhrgebiets" widerlegt mit seinen fast 150 Fachwerkhäusern, darunter das schmale Bügeleisenhaus, alle Vorurteile vom Revier.

Das tut Essen-Steele nicht. Im Gegenteil - zum ersten (und letzten) Mal durchradeln wir auf dem Weg zu unserer Unterkunft in Kray Stadtviertel, in denen das Ruhrgebiet noch raue, unrenovierte Fassaden hat. Hart, aber herzlich. Dafür überrascht das Hotel "Alte Lohnhalle" auf der einstigen Zeche Bonifacius als gelungene Kombination aus Industriearchitektur und modernem Design umso mehr. Wir schlafen tief und fest.

Tag zwei beginnt gleich dort, wo Essen am schönsten ist. Morgennebel liegt über der Ruhr an der Schillenburger Schleuse, erste Gänse landen in den Ruhrauen bei Holthausen - Naturidyllen, die nur Frühaufsteher erleben. In Kupferdreh beginnt der Baldeneysee, Essens 1930 angelegter Ruhr-Stausee und heute das Freizeitrevier der Europäischen Kulturhauptstadt 2010. Acht Kilometer geht es am Südufer entlang. Ausflugsboote der Weißen Flotte verkehren, Ruderer trainieren in der Ferne, Inlineskater und Jogger ziehen am Ufer mit Blick auf die Villa Hügel, einst vornehmer Wohnsitz der Krupp-Dynastie, ihre Bahnen.

Für uns geht es zunächst durch Essen-Werden, bekannt durch seine 799 gegründete Benediktinerabtei, in der heute die berühmte Folkwang-Hochschule zu Hause ist. Eine halbe Stunde darauf folgt mit der Altstadt von Kettwig erneut ein Fachwerkensemble, das selbst für Kenner des Reviers noch ein Geheimtipp ist - die alte Tuchmacherstadt besitzt einen der besterhaltenen mittelalterlichen Altstadtkerne der ganzen Region.

Danach beginnt fast schon der Endspurt. Nach Kettwig weitet sich das Ruhrtal, der Radweg führt durch Auen, Felder und vorbei an Reiterhöfen nach Mülheim an der Ruhr. Ledermuseum, Wasserbahnhof und City lassen wir rechts liegen - wir möchten direkt zur Pause im Aquarius Wassermuseum. Im 1892/93 von Stahlbaron August Thyssen erbauten Wasserturm im Ortsteil Styrum zeigt eine interaktive Ausstellung die Geschichte der Wassernutzung an der Ruhr und zum Wasserkreislauf. Von der Aussichtsplattform in rund 40 Metern Höhe erahnt man am Horizont schon die Silhouette der Stahlwerke von Duisburg am Rhein.

Knapp 15 Kilometer liegen noch vor uns - nicht mehr als ein leichtes Ausrollen über die Ruhrdeiche bei Oberhausen-Alstaden bis zur Ruhrschleuse am Hafen in Duisburg-Ruhrort. Wenig später mündet die Ruhr in den Rhein, und der Ruhrtalradweg endet an der weithin sichtbaren Skulptur "Rheinorange". Uns ist jetzt nicht nach Kunst, sondern nach Durstlöschen in einem Café am Duisburger Innenhafen.

Dann das Ziel - die Radstation am Hauptbahnhof. Manuels Einsatz hat sich gelohnt . Und der Sattel gehalten.