Fast jeder redet von der “Regen-Metropole“. Doch dann überrascht die schönste Stadt Norwegens plötzlich doch mit Sonnenschein und zeigt sich von ihrer bunten Seite.

Bergen. Der Sommer an der norwegischen Westküste ist längst vorbei, die weißen Nächte liegen zwei Monate zurück. Es ist Regenzeit in Bergen. Anders gesagt: Es hat jetzt gefälligst wieder so zu schütten, wie es alle für diese Jahreszeit vorhersagen: die Wetterstatistik, die Reiseführer, die Norwegen-Kenner. Sie alle berufen sich darauf, dass Norwegens schönste Stadt zugleich Europas regenreichste sei oder jedenfalls sein soll.

Und was passiert? Die milde Sonne des skandinavischen Spätsommers taucht das Tor zum Fjordland in ein warmes Licht, seit Tagen schon. Vor den bunten Häusern des alten Hanseviertels Bryggen sitzen die Leute an langen Holztischen, trinken nach Herzenslust Wein und Bier vom Fass, da mögen die Preise noch so hoch sein, und sie genießen die Brise, die vom Meer her in die Stadt weht. Gegenüber auf dem Fischmarkt, auch direkt an der Hafenbucht Vågen, lassen es sich die Bergener und ihre Besucher bei Krabbenbroten, Räucherfisch und Softeis gut gehen.

Und mittendrin Tom Rönes, wohl der erfolgreichste Fischhändler der Stadt. Mit einem Dutzend Mitarbeiter - Italiener, Portugiesen, Griechen - verkauft er pralle Lebensfreude und alles, was die Kutter ihm heute Morgen an die Hafenkante geliefert haben: reichlich Hering, aber auch Seeteufel, Garnelen, Hummer. Überraschend oft auch ein geräuchertes Stück vom Wal, was vor allem Deutsche zum Anlass für kritische Fragen nehmen. Und doch sind Tom die deutschen Kunden bei Weitem die liebsten: Sie wissen, was sie wollen, sagt er, und die Camper unter ihnen lassen sich ihre Kühlkisten kiloschwer füllen, bevor sie sich auf den Weg in die Wildnis oder in die Heimat machen. Und dass jeden Tag sogar Kreuzfahrtpassagiere ganze Fresspakete mit an Bord der feinsten Luxusliner nehmen, wundert ihn nach 25 Jahren Markterfahrung auch nicht mehr.

Es riecht, wie fast überall in der Stadt, nach Fisch, jenem Rohstoff, der Bergen reich gemacht hat, vor 800 Jahren schon. Stockfisch war damals, im 13. Jahrhundert, Norwegens wichtigster Exportartikel. Deutsche Kaufleute tauschten ihn gegen Weizen aus den Ostseeländern ein. Sie siedelten sich in Bergen an, gründeten das Hansekontor Bryggen und prägten über vier Jahrhunderte die Geschicke der Stadt.

Bis heute gehören die Relikte der Hanse-Kolonie zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten in Bergen: die dunkle, trutzig wirkende Marienkirche, in der bis vor 100 Jahren auch deutsch gepredigt wurde, das Hanseatische Museum, die Schøtstube, in der kostümierte Leute die Vergangenheit fröhlich und lautstark aufleben lassen. Vor allem aber die blutroten, grellgelben und schneeweißen Holzhäuser von Bryggen, die zusammen mit ihren Hinterhöfen, engen Gassen und den Handwerksbetrieben darin seit 1979 auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes stehen. Wirklich spannend aber wird es erst im Labyrinth hinter der Postkarten-Fassade. Dort wird gewebt, gesponnen und in einer niedrigen Schankstube das lokale Hansa-Bier gezapft. Ein paar Meter weiter erzählt Per Vigeland, ein junger Silberschmied, stolz von einem Preis, den seine modern-traditionellen Kreationen kürzlich in Lübeck bekommen haben. Kaum ein Tourist verirrt sich ins kuschelige Mini-Café "Sakristiet", wo Studenten auf alten Sofas stundenlang vor einem Latte macchiato sitzen oder lesen.

Bergen ist eine kleine Großstadt, knapp 230 000 Einwohner, zehn Prozent davon sind Studierende. Der Stadtkern ist modern, der Charme, das Flair, die Überraschungen verteilen sich auf mehrere alte und gepflegte Quartiere, die man suchen muss oder auf die man, noch schöner, beim ziellosen Bummel stößt: das Roseviertel zum Beispiel, auf einer Anhöhe gelegen. Ganz still ist es hier oben, wo alle Holzhäuser so weiß strahlen, als seien sie gestern erst gestrichen worden. Aus den Vorgärten leuchten Hortensien. In den Fenstern stehen Schiffsmodelle oder Mitbringsel aus fernen Ländern, besonders liebenswert in der Elvegaden.

Dritter Tag. Es wäre an der Zeit, mal in einen der viel gepriesenen Kulturtempel an der Kunstmeile am Lungegårdsvann zu gehen, dem Binnensee im grünen Herzen der Stadt: ins Kunstmuseum, in die Kunsthalle, ins Industriemuseum. Aber noch immer lacht die Sonne jegliche Statistik aus. Da fahren wir denn doch lieber am Vormittag mit der Standseilbahn auf den Fløien, Bergens Hausberg, 320 Meter hoch. Und am Nachmittag verdoppeln wir diese Leistung und gondeln mit der Seilbahn ins Hochgebirge: 640 Meter misst der Ulriken, der schönste Berg weit und breit. Von der Fjellandschaft dort oben ist der Blick auf die Stadt und den Fjord ganz einfach fantastisch. Und während wir noch schauen, spricht uns Kirsten Reckeweg an, erfolgreiche Malerin, Lebenskünstlerin und Frohnatur.

Kirsten, die aus Ostwestfalen stammt, lebt mit ihrem Mann seit ein paar Jahren in dieser Stadt. Mit ihr zusammen entdecken wir Nordnes, auch so ein schönes Holzhaus-Viertel, in dem vor allem alternatives Leben blüht. Etwa im Kulturzentrum Verftet, einer ehemaligen Sardinenfabrik. Kirsten hat viele Geheimtipps. Strandgaten ist einer davon, eine lange Straße, die in der Innenstadt als lebhafte Einkaufsmeile beginnt und im Südwesten, auf der Halbinsel Nordnes, in ein beschauliches Quartier mündet. Dort, mit der Hausnummer 152, stand einst das Geburtshaus des Komponisten Edvard Grieg.

Fünfter Tag in Bergen, letzte Einkäufe auf dem Markt am Hafen, norwegischer Kaviar, geräucherter Fisch, haltbar eingeschweißt. Und endlich verdunkelt sich der Himmel und die Wolken brechen. Also flüchten wir uns unter die Markise von Toms großem Marktstand. Der Fischhändler, der den Regen in seiner Heimatstadt "flüssigen Sonnenschein" nennt, hat zum Abschied eine Überraschung parat: "Kennt ihr eigentlich Europas regenreichste Großstadt?" Aber Tom, was soll die Frage? "Bei uns regnet es laut europäischer Statistikbehörde, ja, die gibt es wirklich, durchschnittlich an 248 Tagen im Jahr. Köln hingegen schafft 263 und London sogar 266 Tage." Tja, so kann man sich täuschen.