Die endlose Weite der Tundra gehört ihnen, den pelzigen Brocken mit den riesigen Hörnern. Nirgendwo leben so viele der Zottel-Tiere wie auf dieser Insel im eisigen Ozean.

Sie haben sich in eine Gegend des Planeten gerettet, die bis heute so aussieht, als bastele der liebe Gott noch und habe mit der Schöpfung gerade erst begonnen: zottelige Wesen aus der Urzeit, mit ihrer buschigen Wolle voluminös wie ein Elefant, mit ihrem gewaltigen Kopf mit mächtigen Hörnern bedrohlich, bis zu anderthalb Meter hoch und zweieinhalb Meter lang. Sie führen das Wort Ochsen im Namen, gehören biologisch doch zur Familie der Ziegen - und sind so etwas wie lebende Grüße aus der Urzeit. Sie sind gut 20 000 und weiden auf alles in allem rund 400 mal 190 Kilometern, auf einer Insel fast so groß wie Irland in der hohen Arktis der kanadischen Northwest Territories.

Nirgendwo sonst sind so viele Moschusochsen zu Hause wie auf Banks Island - einem Stück Land im eisigen Ozean mit nur 122 Einwohnern, alles andere als erschlossen, mit weniger als acht Straßenkilometern und ohne auch nur einen Quadratmeter Asphalt. Kanadas äußerster Norden ist noch heute echtes Abenteuerland. Nichts ist hier oben wirklich planbar, gar nichts garantiert, alles abhängig von Wetter, Widrigkeiten, Tagesform. Die meisten Flüsse und Seen haben keine Namen, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, bei mindestens neun von zehn Schritten Boden unter den Füßen zu haben, auf dem noch nie zuvor ein Mensch gestanden hat. Auch das macht diese Gegend so großartig.

Wer sich herwagt, braucht Leute wie Roger Kuptana - erst recht, wenn er auf Moschusochsen-Safari gehen will: einen, der hier geboren, hier aufgewachsen ist, jeden Wind deuten, aus jeder Wolke das Wetter lesen kann, Fährten erkennt, die Tiefe jedes Flusses zu jeder Jahreszeit weiß, die Strömungen einschätzen kann. Einen, der unentwegt mit der Natur spricht, ohne dafür auch nur einmal die Lippen bewegen zu müssen. Roger, Inuit und um die 60, hat von seinen Eltern noch mit auf den Weg bekommen, was er "das Wissen der Zeiten" nennt.

Diesen Nachmittag wartet er bereits mit den Quads, mit so etwas wie kleinen Allrad-Traktoren, am Flughafen - und leidet unter der Sommerhitze: 25 Grad. Plus! Am Abend zuvor waren es noch drei Grad, und es gab Schneeregen. "Das Wetter dreht bei uns immer blitzschnell", sagt er - und schmunzelt doch über die Kinder, die gerade unten am Strand in Badesachen herumtollen und im sechs Grad kalten Arktischen Ozean schwimmen.

30 Stundenkilometer fährt Roger auf den ersten paar Hundert Metern. Er hatte versprochen, Einsteigertempo vorzulegen - und scheint das schnell vergessen zu haben. Mit 50, 60 brettert er jetzt über die schmale Hügelkette, hinunter in eine Senke, durchquert immer wieder namenlose Flüsse, versinkt zur Hälfte mit dem Quad im Wasser, das wie ein Amphibienfahrzeug im 45-Grad-Winkel versetzt zur Strömung Richtung gegenüberliegendes Ufer stampft und dort weiterrast, kaum dass das Wasser aus dem Motorblock abgelaufen ist. Was das Einsteigerherz eines Quad-Neulings dazu sagt? Es rast. Und der Verstand fragt unausgesprochen: "Durch den Fluss? Kurz vorm Wasserfall? Wie er? Trau' ich mich nicht, mach' ich nicht, will ich nicht." Was der Fuß tut? Er gibt einfach Gas, und die Hände umklammern den Lenker, pressen das Gerät auf den Flussgrund, während es zum anderen Ufer schießt und weiter durch die Wildnis pflügt, wo irgendwo die noch immer unsichtbaren Moschusochsen warten sollen.

Eine Regel nur hat Roger zu Beginn aufgestellt: "Fahrt über Geröll, fahrt im Flussbett. Überrollt so wenig Moose wie möglich und noch weniger Blumen. Sie sind unser ganzer Stolz, die ganze Pracht." Für zwei, drei Wochen im Hochsommer blüht die Arktis, und es ist, als schieße unter der warmen Sommersonne nur so die Lebensfreude gen Himmel und zaubere zehn Zentimeter hohe Pflänzchen aus dem kühlen Grund, ehe der Winter wiederkehrt.

In 200 Meter Entfernung hetzen plötzlich zwei ausgewachsene weiße arktische Wölfe über die Blumenwiese und verschwinden hinter einem Hügel, der wie ein Deich geformt ist und sich kilometerweit hinzieht.

Dahinter sind sie, hinter dem lang gezogenen steilen Riegel aus Moos und Moor, aus Sand, Stein und arktischen Sommerblumen. Zu Tausenden. Ein Heer, das von hier aus unsichtbar irgendwo hinter der Anhöhe wartet: mit wallenden Pelzen, gewaltigen Hörnern, klobiger Statur. Ihnen gehört die Wildnis, die Weite der Tundra. An einem niedrigen Strauch flattert unterdessen ausgerissene Moschusochsenwolle im Wind, riecht ein bisschen streng, ist flauschig weich, zarter als Kaschmir.

Und plötzlich sind sie leibhaftig da: Sie heben sich als gewaltige schwarze Brocken gegen das Weißblau des Horizonts ab wie die Osborne-Stiere aus Holz und Metall an spanischen Landstraßen - die größten Bullen bis zu 400 Kilo schwer. Diesmal 14 Tiere in gut 300 Meter Entfernung, eine weitere Herde am Horizont, drei Kälber mit dabei, die tapsig um die Älteren herumspringen. Roger ist längst langsamer gefahren, leiser, gibt jetzt das Signal zum Stoppen in einer Senke, flüstert sogar: "Wir gehen besser zu Fuß weiter. In kleinen Schritten. Sie können nicht gut sehen, aber Bewegung erkennen. Wir haben Gegenwind, das ist unser Vorteil. Mit Glück können wir uns auf 100 Meter heranschleichen."

Bald schon werden die Urzeittiere wachsam, lassen Staub aufstieben, geraten kurzfristig in Hektik und bilden in Windeseile eine acht-, neunköpfige Mauer wie bei einem Freistoß im Strafraum: Seite an Seite haben sich die größten vor den schmächtigeren Tieren und den Kälbern aufgebaut, die Köpfe bedrohlich gesenkt. Es sind gewaltige Schädel, voller Wolle, mit riesigen Hörnern, die aus den Schläfen zu wachsen scheinen. Und es sieht nicht so aus, als wäre es eine gute Idee, mit ihnen Streit anzufangen. "Sie sind normalerweise ungefährlich", erklärt Roger. "Es sind Fluchttiere. Das Spektakel ist Drohkulisse."

Bis auf 30 Meter lassen sie die Fremden diesmal heran, ehe erst die Kälber davonrennen, dann die Wachformation den Rückzug antritt - um 50 Meter weiter aus vollem Galopp heraus umzudrehen, das massige Fell wie eine dunkle Woge schwingen zu lassen und wieder Aufstellung zu nehmen.

Gesellte sich plötzlich eine Mammut-Familie dazu, tränke mit ihnen aus demselben See, am selben Fluss, weidete im selben weichen, flechtenbewachsenen Tal, würde sich niemand wundern. Nicht hier. Nicht auf Banks Island hoch oben in der kanadischen Arktis. Alles scheint plötzlich möglich - auch dass die Uhr der Evolution vor Zehntausenden Jahren stehen geblieben wäre. Plötzlich passt eine Frage, die sich eigentlich nicht stellt. Ob Roger bei seinen Touren in die abseitigsten Winkel mal ein Mammut gesehen hat?

"Many times", antwortet er, als wäre die Frage völlig normal. "Viele Male. Aber immer nur die Knochen, manchmal einen Stoßzahn." Und nie einen lebenden? "Noch nicht", sagt er. Nichts an der Frage wundert ihn. Es ist, als wollte er nichts wirklich ausschließen. Nicht hier oben. Nicht dort, wo die Natur regiert. Nicht in der Versuchsküche des lieben Gottes auf der Kuppe des Planeten. Nicht auf seiner Insel, wo noch immer Urzeit ist.