Mit einem alten Reiseführer durch Chemnitz, Weimar, Wismar und Erfurt: Wer den letzten “DDR“-Baedeker vor dem Mauerfall mit der Realität von heute abgleicht, gerät ins Staunen, was sich in zwei Jahrzehnten dort alles getan hat.

Karl-Marx-Stadt war im sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staat nach dem Philosophen aus Trier benannt worden, der Chemnitz nie betreten hat. Er sollte als ideologischer Pate des Sozialismus geehrt werden, deshalb mussten 1953 mehr als 300 000 Einwohner ihre Ausweise erneuern lassen. Der Baedeker 1988 beschreibt als Mittelpunkt der "Industriestadt von überregionaler Bedeutung" den "Karl-Marx-Platz mit dem eindrucksvollen Karl-Marx-Monument", dem aus einem Granitblock vom sowjetischen Bildhauer Lew Kerbel gemeißelten Kopf, der "12,40 Meter hoch emporragt". Gerahmt vom Stasi-Haus, offiziell: "Bezirksratsgebäude", mit einer Schriftwand aus Aluminiumguss und dem letzten Satz des "Kommunistischen Manifests": "Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!"

Die Stadt heißt nach einem Volksentscheid seit 1991 wieder Chemnitz. Der Marx-Schädel steht unter Denkmalschutz, statt Aufmärschen auf dem Platz davor zeigen dort Skater tollkühne Künste. Wo einst die Stasi verhörte, versucht das Arbeitsamt heute, Leute in Jobs zu bringen. Ringsherum aber hat sich viel verändert. Die Straße der Nationen ist verdichtet worden, um das Rathaus herum haben Helmut Jahn und andere Architekten die Ende des Zweiten Weltkriegs verlorene Innenstadt mit modernen Bauten simuliert. Chemnitz wirbt nun für sich als "Stadt der Moderne". In den "Kathedralen der Industrie" aus dem 19. Jahrhundert haben sich Kultureinrichtungen, Geschäfte und Loftwohnungen eingerichtet, Häuser der Gründerzeit, des Jugendstils und der Bauhausepoche sind aufgepäppelt worden. Mit dem Kaßberg besitzt Chemnitz das größte zusammenhängende Jugendstilviertel Europas. Das alles ist im Baedeker Ende der Achtzigerjahre gar nicht erwähnt, dessen Autoren kamen damals über die Innenstadt nicht hinaus.

Der Kaßberg war so verrottet, dass ein Besuch sich nicht lohnte. Heute sind dort die Top-Wohnungslagen. Nach der Wiedervereinigung wurde der Theaterplatz mit dem Opernhaus von 1906 erneuert, die Städtischen Kunstsammlungen mit Werken des Impressionismus und Expressionismus auf Weltniveau aufgestockt und der Münchner Galerist Alfred Gunzenhauser, der für seine private Sammlung deutscher Kunst des 20. Jahrhunderts deutschlandweit ein geeignetes Gebäude suchte, fand es in Chemnitz im fünfstöckigen Sparkassengebäude von 1930. Mit 2400 Hochkarätern von insgesamt 270 Künstlern der deutschen Moderne - darunter der größten Otto-Dix-Sammlung der Welt - ist Chemnitz nun bedeutender Kunsthort. Und die Technische Universität, ebenfalls im Baedeker ohne Erwähnung, gehört heute im Hochschulen-Ranking zu den fortschrittlichsten Europas, bekannt für Innovation und die höchste Patentdichte in ganz Deutschland. Für Chemnitz ist der Vor-Wende-Baedeker nur ein nostalgisches Konvolut. Der Besucher findet sich mit dem aufgeschlagenen Buch noch halbwegs zurecht bei der Stadtvisite, wundert sich aber, was alles nicht aufgezählt, doch heute Top-Attraktion ist.

Beispiel Weimar. Deutschlands Klassikerstadt im Südosten des Thüringer Beckens, früher heruntergekommen und doch "eines der größten Fremdenverkehrszentren der DDR", so der Baedeker, ist heute ein Weltstädtchen. Hier hat Luther gepredigt, Cranach gemalt, Bach musiziert, haben Goethe, Schiller, Wieland und Herder geschrieben und Bauhaus-Pioniere von einer neuen Bauwelt geträumt und Musterbauten errichtet. In Weimar wurde 1919 erstmals die deutsche Demokratie gewagt, beschlossen im Theater von der Nationalversammlung und bekannt geworden als Weimarer Republik bis 1933. Weimar ist von Geschichte kontaminiert, jede Ecke hat Bedeutung. Bis zum KZ Buchenwald auf dem Ettersberg. "Hier errichtete das nationalsozialistische Gewaltregime im krassen Gegensatz zu Weimars humanistischer Tradition 1937 das berüchtigte Konzentrationslager", kommentiert der Baedeker. Mehr als 56 000 Menschen fanden den Tod, nach Kriegsende zwangen die Amerikaner Weimarer Bürger, durch das Lager zu laufen, vorbei an Leichenbergen und ausgemergelten Überlebenden.

Die heutige Klassikstadt ist fast zu schnuckelig. Herausgeputzt, mit wichtigen Hotels, Restaurants und Museen. Hier Barock, da Klassizismus, dort Weimarer Kunstschule, aus der das Bauhaus hervorging, Deutschlands größter Moderne-Export, der Architektur und Funktionsdesign weltweit beeinflusst. Die Gassen winden sich, es gibt kaum noch Häuser, die vom Verfall bedroht sind, und die für eine 65 000-Einwohner-Stadt ziemlich großen Plätze sind repräsentativ wie damals, als Minister Goethe dem kleinen Fürstentum diente und es nie wieder eintauschen wollte gegen seine Heimatstadt Frankfurt am Main.

Beispiel Wismar. Ende der Achtzigerjahre laut Baedeker "die zweitwichtigste Hafenstadt der DDR", geschützt gelegen an einer Bucht mit der idyllischen Insel Poel. "Als ehemalige Hansestadt berühmt und mächtig, ist sie auch heute ein bedeutendes wirtschaftliches, kulturelles und touristisches Zentrum an der Ostseeküste." Da übertrieb der Baedeker. Wismar war kurz vor dem Ende der DDR im Zentrum dem Kollaps nahe, berichten Stadtführer. Die Baedeker-Autoren dichteten aber seinerzeit: "Neben dem Hafen, der Werft, der Industrie und den neuen sozialen und kulturellen Einrichtungen bestimmen vor allem die Sehenswürdigkeiten der Altstadt, eines Kleinods mittelalterlicher Baukunst, das Stadtbild."

Die 1229 erstmals genannte Stadt hatte sich mit Lübeck und Rostock zum Pakt gegen die Seeräuber zusammengetan - daraus entwickelte sich die Hanse, die im deutschen Norden des Spätmittelalters für Wohlstand sorgte. Anderthalb Jahrhunderte setzten sich die kriegerischen Schweden fest, dann ging die Stadt an Mecklenburg. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Innenstadt zerstört, danach zwar wieder aufgebaut, aber es gab keine ausreichenden Mittel, die nach Wismar flossen. Als nach der Wiedervereinigung Investoren kamen, wurde erst die Werft flottgemacht, dann die Innenstadt generalstabsmäßig erneuert. Busreisende stoßen in den Straßen und auf den Plätzen Entzückungsschreie in Serie aus. Einen 10 000-Quadratmeter-Marktplatz wie Wismar hat manche Großstadt nicht, mit dem klassizistischen Rathaus und Resten der Gerichtslaube ist stolze Vergangenheit konserviert. Das Gebäude Alter Schwede, um 1380 erbaut und nach Baedeker "das älteste erhaltene Bürgerhaus", beherbergt heute einen populären Gasthof und war in DDR-Zeit auch "Gaststätte". Die Wasserkunst am Markt stammt aus der niederländischen Renaissance, die Giebelhäuser aus dem 17. Jahrhundert und Nikolai- und Marienkirche überragen als wuchtige Gotteshäuser die Altstadt. Nimmt man noch die etwas abseits gelegene Hospitalkirche dazu, hat man den Eindruck, Wismar müsse einmal das Bollwerk des Protestantismus gewesen sein. Im Innern aber sind die mittelalterlichen Kirchen nicht evangelisch karg, sondern gefällig ausgestattet.

Beispiel Erfurt, Thüringens Hauptstadt. Stolze Sandsteinhäuser wölben ihre verzierten Fassaden nach vorn wie frische Kuchen, die aus ihren Backformen quellen. Überschwang an den Fassaden, die Farben poppig bunt. "Die über 1200 Jahre alte, einst mächtige Handels- und Universitätsstadt", so der Baedeker, "war Stätte von Synoden und Reichstagen, Schauplatz des napoleonischen Fürstenkongresses und Stadt der ersten Gartenbauausstellung (1838)." Hier wurde Weltgeschichte gemacht, und kaum jemand weiß das noch. Obwohl mächtige Basiliken, Patrizierhäuser, der Petersberg mit seinen Kanonen der ehemaligen Zitadelle und eine der ältesten deutschen Universitäten, heute mit neuen und historischen Gebäuden in die Altstadt gesprenkelt, davon erzählen.