Tatort Whitechapel: Wer war Jack the Ripper, der vor 120 Jahren fünf Prostituierten die Kehle durchschnitt? Dem Killer auf der Spur.

Dauerregen, Erkältungsgefahr! Wettermäßig ist London an diesem Tag ein Ort des Grauens. Und auch sonst kann einem ganz anders werden in einer Stadt, die bis heute über ein Verbrechen rätselt, das 120 Jahre zurückliegt.

Ein Hinterhof in Whitechapel, tristes East End. Dort mordete "Jack The Ripper", schnitt Frauen die Kehlen durch. "Hier ungefähr hat sie gelegen, eine Blutspur führte zu ihrem toten Körper", erzählt Stadtführerin Molly und zeigt, wo eines der fünf Opfer gefunden wurde. Die rund 80 Touristen, darunter Amerikaner, Franzosen, Deutsche, recken ihre Hälse und zücken Digitalkameras.

Herzlich willkommen beim Mörder-Spaziergang. Rund zwei Stunden wandeln wir auf den Spuren des legendären Killers, dessen Taten einen Mordsstoff boten für unzählige Filme, Theaterstücke und Bücher. Und für eine schaurig-schöne Touristenattraktion.

Los geht's um halb acht an der U-Bahn-Station "Tower Hill". Jeden Abend, sieben Tage die Woche. Die Spur führt an Pubs entlang, an Gotteshäusern, modernen Bürogebäuden, alten Hinterhöfen. In den schmalen, von Straßenlaternen illuminierten Gassen lebten einst Frauen in Angst und Schrecken, damals im Jahr 1888: Jack, "der Schlitzer" schnitt fünf Prostituierten die Kehlen durch.

120 Jahre nach dem Blutbad hat die Spurensuche immer noch Konjunktur. Molly schreitet voran, blutrünstige Touristen folgen ihr wie die Ratten dem Fänger von Hameln. David ist 25, ein Geschäftsmann aus den USA, der sich statt vor fallenden Aktienkursen vor dem Mörder gefallener Mädchen gruseln möchte. Während eine Französin erklärt, dass sie um der Abwechslung willen mitwalkt, taucht Molly immer tiefer ein in die Story. Sie erzählt Details über die Frauen, die eigentlich nur der Mörder wissen konnte. Berichtet, wie die Pollys, Annies, Kates und Marys unter ärmlichsten Bedingungen leben mussten. Jede achte Frau ging damals in London als Prostituierte anschaffen, um über die Runden zu kommen.

Mitre Square - Mörder-Molly deutet im matten Licht einer Straßenlaterne auf ein Eisentor. "Hier fand man Kate." Einer älteren Dame entfährt entsetzt ein: "Ist ja furchtbar!" Der Regen prasselt gegen die maroden Fassaden, derweil wirft Molly den Sherlock Holmes und Miss Marples unter uns weitere Indizien hin.

Seit gut zwanzig Jahren schon walkt Molly auf den Spuren des Mörders. Immer noch gerne, wie sie beteuert, während sie von einem Tatort zum anderen hetzt, als gelte es, frische Fußspuren und Fingerabdrücke zu sichern. Nein, geträumt habe sie noch nie von Jack. Allerdings sei ihre Beziehung zum Ripper eine ganz besondere. Auf einem der Killer-Walks hat sie nämlich ihren Mann kennengelernt, Donald Rumbelow. Der frühere Kurator des Londoner Polizeimuseums ist einer der führenden britischen Kriminalhistoriker, international anerkannter Schlitzer-Spezialist und Autor eines Buchs zum Thema.

Wie erklärt er die Faszination, die von diesem Stoff ausgeht? Immerhin gab es den "Würger von Boston", der es in zwanzig Monaten auf 13 Opfer brachte. Und den "Yorkshire Ripper", der vor 30 Jahren zwölf Frauen tötete.

Eindeutige Antwort: Jack war der erste Serienkiller. Zumindest der erste, von dem die Welt Notiz nahm. "Ihn umgibt etwas Geheimnisvolles", findet Molly. Vor allem: Er wurde nie gefasst. Unzählige Verdächtige, Gerüchte und Theorien gerieten ins Visier. Aber Beweise? Fehlanzeige.

Für Molly sind all die Anekdoten über die Tätersuche der Stoff, aus dem sie spannende Geschichten strickt, während sie uns durchs East End führt.

Ärzte und Anwälte standen unter Verdacht, das Tagebuch, das 1993 unter großem Medienecho den wahren Mörder präsentierte, entpuppte sich als das Machwerk eines harmlosen Schlossers. Sogar bis in die königliche Familie reichten die Verdächtigungen: Dr. Sir William Gull, Leibarzt von Königen Victoria, wurde eine Zeit lang misstrauisch beäugt. Eines der Mordopfer habe ein uneheliches Kind vom Kronprinzen Albert aufgezogen und ihn damit erpresst, hieß es. Und um die Monarchie zu retten, habe der Leibarzt sie ermordet und ihre vier besten Freundinnen gleich mit.

Sogar der Kronprinz geriet in Londons dunstiger Gerüchteküche unter Verdacht: Er habe Frauen gehasst, vermuteten die Fahnder, weil er sich bei einer die Syphilis geholt hatte. Ein Arzt, der wegen fünffachen Giftmords gehängt werden sollte, rief am Galgen: "Ich war Jack the ..."

Im wahren Leben sind wir längst beim furiosen Ripper-Finale angelangt, St. Miller Court, wo der Schlitzer zum letzten Mal schlitzte. Das Opfer: "Mary Jane Kelly, ermordet am 9. November 1888 um 19.45 Uhr." Molly berichtet von schweren Verstümmelungen, und dass das Herz herausgeschnitten war. Der wahre Horror aber ist die Geschichte hinter der Geschichte: Mary hatte fünf Kinder, musste sie weggeben, weil sie sie nicht ernähren konnte und schlug sich als Prostituierte durch. "Furchtbar", sagt eine Belgierin nicht ganz akzentfrei und schüttelt entsetzt den Kopf.

Eine schwarze Katze huscht vorbei. Aus dem Himmel über London regnet es kübelweise auf die Ripper-Kulisse herab. Molly verabschiedet uns - nicht ohne Gruseleffekt: "Selbst wenn ich wollte", sagt die Spürnase mit ernster Miene, "ich könnte Ihnen nicht sagen, wer Jack the Ripper war." Verständnisvolles Nicken in der Gruppe, die jetzt eigentlich nur noch Angst hat, bis auf die Knochen nass zu werden.

Wer noch Lust auf ein Bierchen habe, die Kneipe "The Ten Bells" sei da hinten. Hier hatte sich Polly aufgewärmt, bevor sie ihren Mörder traf. Überhaupt soll sich Jack in diesem Pub, den es schon seit 1753 gibt, seine Opfer ausgesucht haben. Den meisten verschlagen Mollys Abschiedsworte die Lust auf ein "Pint". Nicht mal zum Trocknen traut jemand sich rein. Das kennt Molly schon, also schickt sie hinterher: "Zur U-Bahn ist es nicht weit". Und: "Kommen Sie gut nach Hause."