Jakutien: Eine Kreuzfahrt auf der Lena. Im kurzen Sommer Ostsibiriens erlebt der Passagier eine herbe Melancholie und wilde Schönheit.

Kapitän Bankow ist kein gesprächiger Mann. Bedächtig, abwägend sucht er nach jedem Wort, wenn die Passagiere Fragen stellen - nach dem Schiff, dem Fluß, dem Leben in Jakutien, jenem weiten unbekannten Land im Osten Sibiriens, mehr als 5000 Kilometer von Moskau entfernt. Und man merkt ihm an, daß er froh ist, wenn der 1. Offizier erscheint und ihm ein paar Worte ins Ohr flüstert. Dann entschuldigt er sich schnell. Er würde auf der Brücke gebraucht, sagt er, er müsse wieder arbeiten . . .

Mehr als 25 Jahre, fast sein ganzes Berufsleben, hat der Mann, der ein Zwillingsbruder von Wladimir Putin sein könnte, auf dem größten Strom Sibiriens verbracht - der Lena. Zunächst als Steuermann eines Eisbrechers, die letzten Jahre als Kapitän der "Demyan Bednij", einem der wenigen Passagierschiffe, die auf diesem mächtigen Fluß kreuzen - von Jakutsk, der Hauptstadt Jakutiens, flußaufwärts bis zum Baikalsee, oder stromabwärts bis zur Mündung der Lena ins nördliche Eismeer.

"Schlafendes Land", so haben die Kosaken, die im 17. Jahrhundert Sibirien besiedelten, diese unermeßliche Weite zwischen Ural und der Beringstraße genannt. Eine Landschaft von herber Melancholie und wilder Schönheit, durchströmt von den Lebensadern zahlreicher Flüsse. Durch das Panorama-Fenster der Kommandobrücke schweift der Blick über eine Wasserfläche, die eher einem Meer gleicht als einem Fluß. Vor wenigen Minuten noch säumten endlose Birken- und Lärchenwälder das Ufer der Lena, jetzt hat sich der Strom zu einem See geweitet, an dessen Horizont Himmel und Wasser nahtlos ineinander fließen - ruhig und glatt wie ein Spiegel, auf den das weiße Licht der Mitternachtssonne immer wieder neue Reflexe zaubert.

Ja, oft sei die Breite des Flußbeckens kaum auszumachen, sagt Kapitän Bankow - zwanzig, dreißig Kilometer, vielleicht auch mehr. Selbst die Karten seien nicht immer auf dem letzten Stand, ständig ändere die Lena ihren Lauf, die Uferlinie, ihr Erscheinungsbild. Immer wieder schiebt der Strom Inseln und Sandbänke auf, die mehrmals im Jahr eine neue Auslotung der Fahrrinne erforderlich machen. Launisch und unberechenbar sei sie, sagt Bankow, ebenso wie die Wassermassen, die durch ihr riesiges Delta ins Eismeer strömten. Denn auf ihrem 4400 Kilometer langen Weg von der Quelle bis zur Mündung nimmt sie das Wasser von dreihundert Nebenflüssen auf, die wiederum gespeist werden von rund 200 000 kleinen Bächen und Flüssen.

In Jakutsk, Start- und Endpunkt der meisten Kreuzfahrten auf der Lena, sind wir an Bord der "Demyan Bednij" gegangen. Ziel der Reise: Einmal Delta und zurück, mehr als dreitausend Kilometer durch Taiga und Tundra. Noch vor wenigen Jahren war Jakutsk ein unbedeutender Flecken im Riesenreich der Sowjetrepubliken, fast vergessen von den mächtigen Herren im Kreml. Mit der Perestroika änderte sich das schnell: Jakutien wurde zur souveränen Republik innerhalb der Russischen Föderation. Heute verbinden täglich Düsenjets die Metropole an der Moskwa mit der Stadt an der Lena, die Einwohnerzahl kletterte auf 250 000, moderne Sprech- und Musiktheater entstanden, neue Hotels und eine Universität mit 12 000 Studenten. Und auch die meisten windschiefen Holzhütten, die das sibirische Klima mit seinen extremen Temperaturschwankungen bisher überlebt hatten, sind inzwischen gesichtslosen Wohnblocks aus Stein und Beton gewichen - eine Bauweise, die nicht gerade zur Verschönerung des Stadtbildes beiträgt.

Die Hauptstadt hat ein Problem: Sie ist, wie alle Ort Jakutiens, auf Permafrostboden erbaut, der bis zu einer Tiefe von 1000 Metern gefroren bleibt. Auch wenn die Erde in den Sommermonaten oberflächlich auftaut - alle Versorgungsleitungen für Heizungen und Wasser müssen oberirdisch verlegt werden; in Schulterhöhe laufen sie neben den Fußwegen her und spannen sich als wirres Röhrennetz über Straßen und Kreuzungen.

In Jakutsk hat die Lena bereits die Hälfte ihres Weges zurückgelegt. Breit, träge und lehmbraun mäandert der Fluß durch ein Land, das achtmal so groß ist wie die Bundesrepublik, aber nur von 1,1 Millionen Menschen bewohnt wird - eine Fläche von unvorstellbarer Weite und Einsamkeit. Kurz sind die Sommer in diesem Land, lang die Winter der Polarnacht. Erst Ende Mai hat die Sonne das Land so weit erwärmt, daß das Eis zu schmelzen beginnt. Innerhalb weniger Wochen entfaltet dann der Sommer seine ganze Kraft mit Temperaturen bis zu 35 Grad. Doch schon im Oktober hat die Kälte Sibirien wieder fest im Griff. Schneestürme fegen über die Tundra, die Quecksilbersäule des Thermometers sinkt auf vierzig Grad minus. Flüsse und Seen erstarren zu einem dicken Eispanzer. Dann wird die Lena zur Rennstrecke. Riesige Schneepflüge fräsen breite Pisten auf das Eis - eine Autobahn für die Tank- und Lastwagen, die im Winter die Siedlungen am Fluß mit Kohle und Öl, mit Baumaterial und allem Lebensnotwendigen versorgen.

Erster Morgen an Bord der "Demyan Bednij": Früh sind wir aufgestanden. Denn schon seit zwei Stunden gleitet das Schiff an einer Felslandschaft entlang, die zu den spektakulärsten Naturwundern Sibiriens zählt: den Lena-Säulen, einem Steinwald aus Zehntausenden spitzer Felskegel, die am östlichen Flußufer senkrecht in den Himmel wachsen - auf einer Länge von vierzig Kilometern gleichmäßig aufgereiht wie Soldaten auf dem Exerzierplatz. Erosionen, Wind und Regen, Hitze und Frost sowie die alljährlichen Überschwemmungen der Lena haben in Jahrtausenden den weichen Sandstein ausgewaschen und modelliert und dabei bizarre Gebilde geschaffen - mit Zinnen und Türmen, mit tiefen Felsspalten, Schluchten und Höhlen.

Bunte Fähnchen, Wimpel und Stoffetzen hängen in den Zweigen der Bäume am Flußufer. Dahinter eine Feuerstelle inmitten eines Steinkreises mit magischen Gravuren: die Kultstätte eines Schamanen. Noch immer spielt der archaische Zauberpriester eine wichtige Rolle im Glauben der sibirischen Völker. Auch uns wird ein Schamane seinen Segen erteilen - für den Aufstieg zum höchsten Punkt der Lena-Felsen. Eine schweißtreibende Wanderung für einen Ausblick auf eine endlos grüne Ebene aus Wasser und Wald. So weit das Auge reicht: Taiga, nichts als Taiga.

Nach geeigneten Ankerplätzen am Flußufer sucht Kapitän Bankow meist vergeblich. Kein Dorf, keine Siedlung mit einem Kai, einer gemauerten Anlagestelle. Sie hätten auch kaum Bestand. Denn jedes Jahr zur Schneeschmelze steigt das Wasser um zwanzig Meter, riesige Eisschollen rasieren dann die Ufer und stauen sich vor Sandbänken und in den Flußbiegungen. Verständlich, daß die Menschen sich stets auf den hohen Steilufern der Lena ansiedelten. Galt Sibirien zur Zarenzeit noch als Gefängnis ohne Tore, so wurde es im 20. Jahrhundert zum Synonym für Angst und Schrecken, für Tod und Vernichtung. Hunderttausende wurden von den Sowjets in die Gulags östlich des Urals deportiert, zur Zwangsarbeit. Eine Strafe, die für viele gleichbedeutend war mit einem Todesurteil.

Tiksi, ganz am östlichen Rand des Lena-Deltas gelegen, bezeichnete sich vor zehn Jahren noch prahlerisch als "Meerestor zu Sibirien". Heute ist es eine Geisterstadt. Viele der Wohnblocks, in nüchterner sowjetischer Plattenbauweise errichtet, stehen leer, Türen und Fenster sind vernagelt, von den Wänden blättert der Putz. Die Stadt hat ihre Bedeutung verloren: Vor Beginn der Perestroika galt Tiksi als wichtigster Horchposten in der russischen Arktis, heute sind die Radarschirme, die nach Alaska hinüberspähten, verwaist, die Soldaten zurückgekehrt nach Moskau oder St. Petersburg. Von einst 15 000 Einwohner harren nur noch rund 2000 in der Einöde aus, hoffen auf eine bessere Zukunft. "Es geht bald wieder aufwärts", sagt der Mann in dem winzigen Büro, das Meldeamt und Poststation zugleich ist. "Rund um Tiksi liegt soviel Gold in den Flüssen, da müssen nur die richtigen Leute kommen, dann sind wir eine reiche Stadt . . ."

Schön wär's. Dennoch: Ein Besuch im Delta ist der Höhepunkt jeder Lena-Reise. Schon vor zehn Jahren wurde es unter besonderen Schutz gestellt. Denn das Gebiet, größer als die Niederlande und durchzogen von einem Netz Tausender Silberfäden aus Bächen und Wasseradern, gilt als letztes unberührtes Naturparadies der Erde, als Lebensraum unzähliger bedrohter Tier- und Pflanzenarten. Mehr als hundert Vogelarten, sogar aus Australien und Südafrika, finden dort im Sommer ein ideales Nahrungs- und Brutrevier, und vor dem Delta "arbeitet" die größte Eismaschine der Welt - das arktische Packeis. Eisbären, Beluga-Wale, Robben und Walrosse tummeln sich zwischen den Eisbergen, und in den Kernen des ewigen Eises lagern die Skelette und Stoßzähne Tausender Mammuts. Historisch ist das Delta allemal: Denn hier begann vor hundert Jahren die Entdeckung der Arktis. Der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen ließ sich mit seinem Schiff im Packeis einfrieren, um die Eisdrift am Nordpol nachzuweisen.