Der Kreuzberg in Litauen ist eine Pilgerstätte für den Protest gegen staatliche Willkür.

So was gibt es doch gar nicht!", ist der erste Reflex. Baff reibt man sich die Augen und zwickt sich in den Arm. Doch es hilft alles nicht: Was sich hier gut zehn Kilometer außerhalb der litauischen Industriestadt Siauliai offenbart, haut einen schlicht und einfach um: Kreuze, Kreuze und nochmals Kreuze. Große Kreuze und kleine Kreuze. Riesige Kreuze und winzige Kreuze. Prachtvolle Kreuze und schlichte Kreuze. Schwarze Kreuze, weiße Kreuze, braune Kreuze, farbige Kreuze. Kreuze aus Balken, Metall, Stoff, Plastik, Pappe.

Kreuze, die in ganzen Bündeln über anderen Kreuzen hängen und im Wind geräuschvoll knarren. Kreuze, an denen Rosenkränze hängen. Kreuze, an denen Heiligenbildchen befestigt sind. Vielleicht sogar hunderttausend müssen es sein, die eng beieinander auf dem sogenannten Berg der Kreuze stehen. Dicht bei dicht wie ein üppiges, undurchlässiges Urwaldgestrüpp. Eine wirre, wild wuchernde Gemengelage, die nur über eine Treppe und über schmale Schneisen am Hang für Besucher begehbar wird.

Inschriften verraten die Herkunft etlicher Exemplare: Mexikaner, Norweger, Kanadier haben sich hier unter vielen anderen verewigt. Lettische, estnische, polnische Inschriften gibt es wie auch vereinzelt russische - orthodoxe Kreuze. Ausgewanderte amerikanische Litauer brachten ihrem Heimatland Kreuze, aber auch Kolchosen oder Fabrikkollektive. Manche Kreuze tragen Widmungen für in Sibirien verschollene Angehörige. Ein Deutscher bittet mit einem vergoldeten Davidstern um Vergebung für den Holocaust.

Für das katholische Litauen war der nur etwa zehn Meter hohe schlichte Doppelhügel schon immer ein magischer Ort des Glaubens und des Nationalbewußtseins, als Wallfahrts- und Gedenkort ist er einzigartig in der Welt. Chroniken zufolge begann seine Geschichte im Mittelalter, als hier eine hölzerne Festung existiert haben soll als Bastion gegen die Kreuzritter des Deutschen Ordens. Wie lange es dieses Bollwerk gab, ist nicht überliefert, aus ihren Überresten jedenfalls soll der Hügel entstanden sein, aus dem heute die Kreuze "wachsen".

Die ersten von ihnen tauchten im 19. Jahrhundert auf. Zweimal, 1831 und 1863, erhoben sich die Litauer gegen die zaristische Herrschaft, beide Male vergebens. Die Aufstände wurden blutig niedergeschlagen, die Rädelsführer auf dem Hügel hingerichtet. Die Kreuze zu ihrem Gedenken aber blieben von nun an als Zeichen des Freiheitsdrangs unübersehbar. Und bald schon wurde der Hügel zu einer nationalen Pilgerstätte, in der sich tief verwurzelte Religiosität mit stummem Protest gegen staatliche Willkür mischte. Ende des 19. Jahrhunderts war der Kreuzberg auch außerhalb des Landes bereits als Wallfahrtsort ein Begriff. Damals steckten etwa 150 Kreuze im Hügel.

Als durch den Hitler-Stalin- Pakt das Baltikum dem sowjetischen Einflußbereich zugeschlagen wurde und 1940 Truppen der Roten Armee auch in Litauen ein-marschierten, stieg die Zahl der Kreuze explosionsartig an. Der Grund: Von 1941 bis 1952 verschleppte das Sowjetsystem Abertausende Menschen nach Sibirien, wo sie unter grausamen Bedingungen jämmerlich zugrunde gingen. Schicksale, an die mit Tausenden Kreuzen erinnert wurde.

Kein Wunder also, daß der Kreuzberg den Sowjets stets ein Dorn im sozialistisch-atheistischen Auge war. 1961 wollten sie das Übel ein für allemal mit der Wurzel ausrotten; die Behörden beschlossen, das Ganze wegen "religiösem Fanatismus" mit Bulldozern niederzuwalzen. 5000 Kreuze wurden herausgerissen und verbrannt. Doch, oh Wunder, am nächsten Morgen standen mehr Kreuze da als zuvor, über Nacht eingebuddelt von mutigen Litauern. Auftakt zu einem hartnäckigen, verbissenen Krieg um die Kreuze, der fast 20 Jahre dauerte.

Zu Beginn der "Glasnost"-Zeit-rechnung reichten die Litauer eine Liste ihres zu schützenden Kultur-Erbes in Moskau ein - und schmuggelten den Berg der Kreuze listig mit hinein in diese Aufstellung. Das aber entging den schlampigen Prüfern. Als man den Fauxpas bemerkte, war es zu spät - die Sowjets hatten ganz andere Probleme. Eines davon führte 1991 zum vorerst letzten Mal dazu, daß Kreuze für Opfer des litauischen Freiheitskampfes in den Berg gesetzt wurden. Damals stürmten sowjetische Fallschirmjäger den besetzten Fernsehturm von Vilnius und erschossen 14 Menschen - ein vergeblicher Versuch, die Unabhängigkeit Litauens aufzuhalten.

Das letzte herausragende Ereignis am Berg der Kreuze liegt gerade einmal zwölf Jahre zurück. Am 7. September 1993 gab sich Papst Johannes Paul II. die Ehre und zelebrierte in einer Kapelle eine Messe. Seither gilt der Kreuzberg auch als heiliger Ort für Katholiken aus aller Welt.

Heute ist er ein Denkmal für Leiden, Liebe und Hoffnung. Noch immer werden täglich Kreuze in den Berg gesetzt mit privaten Bitten um göttlichen Beistand und persönlichen Wünschen, die aber der Legende nach nur dann in Erfüllung gehen, wenn man das Kreuz mit eigenen Händen hergestellt und mit eigenen Händen eingegraben hat. Was Karl Marx jedenfalls je gemeint haben mag, als er vom "Opium des Volkes" schrieb - hier erhält man einen überwältigenden Eindruck davon.

Eine Frage allerdings ist bis heute unbeantwortet geblieben. Wie viele Kreuze denn nun eigentlich in diesem mysteriösen Berg stecken, weiß kein Mensch ganz genau. Anfang der 90er Jahre hatten Studenten der Universität Vilnius versucht, das Geheimnis zu ergründen. Vergeblich: Bei 50 000 mußten sie aufhören - das Kreuzchaos entzog sich jeder rationalen Analyse. Für alle Gläubigen ein weiterer Beweis dafür, daß Gott mit dem Verstand allein niemals begriffen werden kann.