Bis vor einer Woche kannte kaum jemand hierzulande das Land am Kaspischen Meer - dann der Sieg beim Eurovision Song Contest. 2012 findet der Musik-Wettbewerb deshalb in Baku statt. Eine Metropole voller Überraschungen

Ein plötzlicher Schlag trifft uns, kalt und unerwartet, dann noch einer. Wie "Watsch'n" kommen sie daher - steife, unangenehme Böen, die alles scheppernd zusammenfegen: uns, einen Haufen Bretter und gigantische Staublawinen. Sturm über Baku, das im Sommer bis 45 Grad heiß wird?

Dieser erste Eindruck am nächtlichen Flughafen - verdammt unfreundlich. Ein meteorologischer Ausrutscher südöstlich des Kaukasus am Ufer des Kaspischen Meeres? Nein, klassisch, wie wir erfahren. Zumindest für Winter und Frühjahr. Der Name Baku, aus dem Persischen, bedeutet "Stadt der schlagenden Winde", von "bad" (Wind) und "Kube" (schlagend). Eine vielschichtige Stadt am Rande westlichen Bewusstseins, die uns ohne zu zögern in etliche Tiefen entführt, meteorologische ebenso wie historische bei gleichzeitigem unübersehbarem Aufbruch in hypermoderne und - wörtlich zu nehmen - lichte Zeiten. Vor allem nachts unter osmanischem Sternenzelt.

Dann überwältigt die Hauptstadt Aserbaidschans mit ihrer Illuminierung. Der 25 Kilometer lange Heydar-Aliyev-Prospekt führt in eine lichtdurchflutete, schattenfreie Märchenwelt. So etwas kennt das traditionsbewusste Paris nicht, nicht das hektische Tokio, nicht Rom oder New York. Wohl aber das nächtliche Baku am Rande der Welt. Haus für Haus wird millionenfach von weichem, ockerfarbenem Licht angestrahlt, als gebe es keine Energiekrise, als gebe es überhaupt keine Probleme, die zum Sparen anhielten. Mit wachsendem Staunen rollt man über breite Boulevards, vorbei an majestätischen Häuserzeilen, an monumentalen Gebäuden, Theatern und Villen vergangener Tage - alles erhellt, friedlich, wie von Walt Disney verzaubert. Nichts rührt sich auf den vereinsamten Straßen, bis auf die aufgepeitschten Staubwolken, die wie Kobolde durch die leere Stadt jagen und sich vom Schutt der Baustellen nähren. Ansonsten Ruhe, eine fast hallende Ruhe: Baku - die Hauptstadt Aserbaidschans, morgens um 1.30 Uhr. Eine Offenbarung.

Nie erwartet in einer Region, verborgen hinter dem geheimnisvollen Gebirgsriegel namens Kaukasus, immer nur von Kämpfen belebt, von Karawanen auf der Seidenstraße durchzogen, selten im Fokus westlichen Interesses. Hatte nicht schon Goethe sein Desinteresse an dieser Region mit dem berühmten Wort aus "Faust" so bekundet? "Wenn hinten, weit, in der Türkei, Die Völker aufeinanderschlagen ..." Was sie mehr als 1000 Jahre ausgiebig taten.

Dessen ungeachtet aber hat sich "dort hinten", unweit der Türkei, eine der westlichen Welt verborgene Metropole von ungewöhnlichem Glanz entwickelt. Nicht Grau in Grau wie die Trabantenstädte sowjetischer Provenienz - eine Weltstadt, deren Faszination bislang mehr vom Hörensagen ihrer genialen Kinder ausging, die der unruhigen Stadt im Laufe ihres Lebens freilich den Rücken kehrten: Garri Kasparow, Richard Sorge, Essad Bey oder Mstislaw Rostropowitsch, der wohl größte Cellist seiner Zeit. Schriftsteller mit geheimnisvollem Ende der davor Genannte; als Mohammed-Biograf auch einer der ganz Großen, Spion aus Leidenschaft und Überzeugung Richard Sorge und Schachgenie der zuerst erwähnte Garri Kasparow. Sie alle entstamm(t)en dem Völkerchaos am Kaspischen Meer, Schmelztiegel von Ost und West trotz scharfer Trennlinien, von Okzident und Orient, Islam und orthodoxem Christentum, von finsterer Despotie und zarter Lyrik. Die Periode des Über und Unter währte mehr als 30 Generationen.

Ab dem 7. Jahrhundert unterwarfen die Araber diese seit alters her sagenumwobene Gegend. Sie wurde später türkisch, mongolisch, persisch, ehe die Russen sie vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 vereinnahmten. Als die Russen abdankten, ahnte niemand, dass sie schon 1920 als sowjetische Eroberer zurückkehren würden, kaum dass der eben gegründete Staat Aserbaidschan Luft geholt hatte. Dauerokkupationen unter wechselnden Fahnen - das schien das Schicksal der kleinen Republik zu sein. Nun, vom sowjetischen Joch befreit, dreht Baku auf, wandelt sich sowohl vor als auch zurück zur Weltstadt, zur Metropole, in der zwar noch nicht wieder Milch und Honig fließen, wohl aber dank der sprudelnden Ölquellen der US-Dollar, scheinbar bereits im Übermaß. Eine Stadt der unfertigen Hochhäuser - noch, die aber schon wie Giraffen neugierig über die Art-Nouveau-Residenzen der ersten Ölmillionäre hinausragen.

An den Kaukasus gelehnt, vor sich die Weite des Kaspischen Meeres, verabschiedet sich das Land, zuvörderst aber die Stadt, in rasantem Tempo von seinen Nachbarn, ob sie Türkei, Iran, Turkmenistan heißen oder Kasachstan, Russland, Georgien und Armenien, von Letzterem ganz besonders krass.

Die Stadt ist westlich modern bis hypermodern, versehen mit allen Edelmarken dieser Welt, von Armani bis Zegna, New York nicht nachstehend. Sie ist zugleich uralt, an die 10 000 Jahre; sie ist schründig wie Jerusalem und doch in den hügeligen Armenvierteln übersichtlich, sauber, fast pittoresk - dabei, bis auf wenige Spuren des letzten Erdbebens im Jahr 2000, kaum von Verfall bedroht. Sie wird mit den 2,2 Millionen Einwohnern in ihrem Großraum eben nicht von Menschenmassen erschlagen wie die asiatischen Metropolen. Der eurasische Charme ist Teil ihres Geheimnisses. Die Stadt ist islamisch geprägt. Doch anders als in den meisten Staaten, die Aserbaidschan umzingeln, in denen kaum eine unverschleierte Frau zu sehen ist, sieht man hier keine einzige verschleierte. Man sieht in dem islamischen Land sehr hübsche Frauen, verdammt hübsche, modern gekleidet. Die Minarette, die diesem Eindruck zu widersprechen scheinen, sind integriert, beherrschen aber das Stadtbild nicht. Ein weiteres Indiz für die Trennung von Staat und Religion. Das dominierende Grün Mohammeds fehlt den Moscheen ebenso wie der klagende Ton des Muezzin.

Nicht zuletzt fehlen weitgehend die öden Zutaten aller Slums dieser Welt: die himmelhohen Müllhalden und die Masse streunender Köter. Hunde ohne Leine gibt es hier nicht; ebenso wenig krakeelende Kinder. Sie werden auf den sauberen Plätzen von Bediensteten höflich zur Ruhe angehalten. Nachhaltig, wenn es sein muss.

Vom Joch befreit, nutzt die Stadt ihre zweite Chance. Die russische Vergangenheit ist auf dem Rückzug. Architektonisch ebenso wie auf der Straße. Der Lada ist ohne Chance gegen Toyota, Audi, BMW oder Mercedes. Die Benzin saufenden SUV deuten zwar in die falsche Richtung. Doch Aufbruch ohne Fehlentwicklung ist nicht denkbar und bei einem Benzinpreis von 45 Cent/Liter auch verständlich.

Als Erinnerung an die zwangs-kommunistische Ära hält sich ausgerechnet der gewaltige Präsidentenpalast. Auf einem Hügel über der Stadt gelegen, nötigt er den Aserbaidschanern nach wie vor den demütigen Blick von unten ab. Aber auch das soll bald ein Ende haben. Der neue Repräsentationsbau liegt in der Planung vor. Dabei überrascht der jetzige Sitz, bis 1991 Zentrum des Zentralkomitees der KP der Volksrepublik Aserbaidschan, im Inneren durch Großzügigkeit, Helligkeit, ja Eleganz. Und der Blick nach draußen über die ockerfarbene Stadt bis ins gleißende Meer ist über jeden Zweifel erhaben.

Es ist das Öl gewesen, das Baku Ansehen, Reichtum und Verehrung einbrachte - das Öl, nach dem Hitler gierte, ohne es je in die Hände bekommen zu haben, das Amerika auf den zweiten Platz der Produktion verwies, das schon die Anhänger Zarathustras (um 628 vor Christus geboren) in Anbetung erstarren ließ. Ehe es in im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum beherrschenden Rohstoff der Welt wurde, magnetisierte es schon in der Antike die Feueranbeter, die nicht verstanden, was es mit der "ewigen Flamme" aus leicht entzündbaren Gasen der Unterwelt auf sich hatte. In Ledersäcken transportierte man das heilige Gas, undefinierbar und anbetungswürdig, bis Indien.

Es war das Öl, das Baku auch in soziale Konflikte stürzte. Der Georgier Dschugaschwili ruinierte vor 110 Jahren durch gewalttätige Streiks die Ölproduktion, wodurch er die eigene anarchistische Karriere förderte, um die Produktion später, als er sich Stalin nannte, wieder anzukurbeln. Wenn auch mit weit weniger Erfolg. Seine zerstörerische Politik in Baku, von der er stets voller Genugtuung als seinem "Gesellenstück" sprach, hatte ausgereicht, die Öl-Nabobs der westlichen Welt, die Nobels aus Schweden, die Rothschilds aus Frankreich sowie Abenteurer, Spekulanten und Geschäftsleute aus allen Teilen der Welt zu vertreiben. Damit erlosch die Flamme des Fortschritts. Knapp 30 Jahre lang, von den wilden 70ern des 19. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertwende, hatte man rings um Baku 50 Prozent der Weltproduktion gefördert. Das gibt das Festland nicht mehr her. Stattdessen grüßen die Bohrtürme heute aus dem Kaspischen Meer. Auch wenn die Hälfte der Weltproduktion längst zum Bruchteil der heutigen Mengen geschrumpft ist: Die 0,6 Prozent am globalen Gesamtanteil reichen offenbar immer noch aus, ein ganzes Land zufriedenzustellen. Und nicht nur sie, auch die internationalen Öl-Nasen. Sie sind nämlich alle wieder da, die Investoren wie Exxon, Amoco, BP, die Wagemutigen und sonstigen Söldner des Schwarzen Goldes. Allein 15 Milliarden Dollar wurden in den vergangenen fünf Jahren in den Aufbau der Stadt gesteckt. Jetzt will man sich dem Westen zuwenden, will darüber hinaus, dass sich der Westen endlich diesem Staat zuwendet, der sich mit der geplanten Gaspipeline Nabucco als Konkurrenz zu Russland ins Spiel bringen will.

Die Reste von Stalins Monumenten sollen irgendwo auf einem Hinterhof, zusammen mit denen Lenins, gelagert sein - zum Recyceln bereit. Das einzige Denkmal der untergegangenen Ära gebührt Richard Sorge in dem gleichnamigen Park. Ein geniales Werk, einzig fokussiert auf die hypnotischen Augen des Meisterspions. Sorge wurde 1944 in Tokio hingerichtet. Anders ist der Umgang mit den Palästen der früheren Öl-Könige - Sandsteinbauten, die den nächtlichen Besucher entzückten. Sie sind restauriert und umgewidmet zu Hotels, Museen, zu Theatern und Hochschulen. Aus dem Kasino der Öl-Magnaten ist die Philharmonie geworden, möglich, dass dort der Contest 2012 stattfindet. Die Art-Nouveau-Gebäude wirken heute unter den Hochhausbauten wie gestrenge Tanten, die auf Traditionen achten. Sie legen sich wie zum Schutz um die zum Weltkulturerbe erhobene historische Altstadt. Deren muselmanischer Charakter prägt nach wie vor diese durch nichts zu brechende Hafenstadt. Dessen Nachtleben wieder, Wikipedia zufolge, zu den zehn aufregendsten weltweit gehören soll.

Es wurde zwar nicht gesucht, das Nachtleben; es drängte sich aber auch nicht auf. Trotzdem scheint etwas daran zu sein; an Andeutungen im Paul's, dem deutschen Steakrestaurant der Extraklasse, fehlte es jedenfalls nicht - dort, wo sich die Öl-Nasen abends zum internationalen Klönschnack treffen.