Eine Glosse von Martin Cyris

São Paulo hat einen Mordsruf - als eine der gefährlichsten Millionenstädte der Welt. Deshalb kann ich es nicht leugnen: Als ich zum ersten Mal einen Fuß in diese Metropole setzte, gingen automatisch ein paar Schubladen bei mir im Hinterkopf auf. Darin befanden sich mulmige Gefühle, Skepsis, Misstrauen - und die endlosen, schaurigen Hochhausschluchten regten meine Fantasie zusätzlich an. Deshalb: Holzauge, sei wachsam!

Weil es aber in allen Schluchten auch immer kleine Fluchten gibt, wollte ich der bevölkerungsreichsten Stadt der Südhalbkugel eine faire Chance geben. Also raus und die Lage erkunden, als erstes das Viertel Vila Madalena mit seinem Kneipenboulevard Rua Aspicuelta. Mit schicken Cafés, Galerien und leckeren Caipirinhas zählt es zu den angesagtesten Ausgehvierteln der Stadt.

Mein Ziel: eine Bar mit Live-Musik. Taxis waren jedoch weit und breit nicht zu sehen. Sollte ich etwa zu Fuß gehen, ganze 45 Minuten durch unbekanntes Terrain? Es war stockfinster und die Straßenbeleuchtung auf Sparflamme. Die Beklemmung verfolgte mich auf Schritt und Tritt, sodass ich schließlich den Bus nahm.

Kaum hatte ich jedoch einen Sitzplatz ergattert, übermannte mich der Jetlag: Ich fiel in einen komatösen Schlaf und kam erst einige Kilometer später wieder zu mir - die Partyzone lag längst hinter uns. Im Vorbeifahren sah ich nur düstere Gassen. Keine Ahnung, wo wir uns befanden. Die Angst kroch in mir hoch. Hier kannst du unmöglich aussteigen, dachte ich.

Irgendwo am Rande der City erreichten wir schließlich die Endstation. Dort erschien mir ein Umsteigen in die Gegenrichtung als unbedenklichste Lösung. Meine einzige Sorge waren meine Bandscheiben. Würden sie noch einmal die ganze Strecke zurück durchhalten? Die Straßen erwiesen sich nämlich als so löchrig wie ein Emmentaler. Und seiner sportlichen Fahrweise nach zu schließen, machte sich der Busfahrer darüber überhaupt keine Gedanken. Mit Spitzengeschwindigkeiten schoss er über den Asphalt. Da half nur festhalten, Augen zu und durch. Mir schossen Szenen aus dem Actionstreifen "Speed" durch den Kopf. Auch dort bretterte ein Bus unaufhaltsam über die Straßen - Aussteigen unmöglich. Ich war erleichtert, als wir nach fast einer Stunde Ruckelfahrt endlich ankamen. Und was für ein Glück: An dieser Station warteten sogar Taxis.

Die Party in Vila Madalena war nach meiner Odyssee schon vorüber, trotzdem wurde es noch ein unterhaltsamer Abend. Ich dachte an meine Schubladen im Kopf und stellte fest: Trotz des Rufes, der São Paulo vorauseilt, wenn man ein paar Spielregeln beherzt, muss es hier auch nicht gefährlicher sein als auf Sankt Pauli oder anderswo in Hamburg.