Seltenes Tiererlebnis in den Berghängen des Himalaya: In Ladakh können Schneeleoparden noch in freier Wildbahn beobachtet werden.

„Ist er das, Jigmet?“ Ich starre auf die Felswand, die sich 60 Meter vor uns steil in die Höhe erhebt. An einer Stelle scheint sich plötzlich der Boden zu bewegen. Die Umrisse eines großen Tieres schälen sich aus dem schneebedeckten Hintergrund. Dann stehe ich einem ausgewachsenen Schneeleoparden gegenüber.

Sein buschiger Schwanz, beinahe so lang wie sein Körper, zuckt nervös. Er dreht den massigen Kopf in unsere Richtung und wittert, als wolle er herausfinden, welche Absichten wir hegen, ehe er sich würdevoll in höhere Lagen zurückzieht und schließlich in einem Felsspalt verschwindet.

Die Hoffnung, einen der verbliebenen 300 Schneeleoparden Ladakhs in den rauen Berghängen des Himalaya zu entdecken, ließ mich gemeinsam mit fünf weiteren Abenteurern zu dieser Reise aufbrechen. Zwei auf außergewöhnliche Tierreisen spezialisierte Anbieter, die Berliner Planeta Verde und das in Kalifornien beheimatete KarmaQuest, haben sich zusammengetan, um Gästen in Ladakh ein selten gewordenes Naturereignis zu bieten: eine Schneeleopardenbeobachtung in freier Wildbahn.

Seit Jahren kooperieren die beiden Veranstalter mit der in Ladakhs Hauptstadt Leh ansässigen Umweltschutzorganisation Snow Leopard Conservancy. Deren Programmleiter, Jigmet Dadul, hat in seinem Leben vermutlich mehr Schneeleoparden gesehen als jeder andere. Er weiß, dass die scheuen Jäger ihrer Beute im Winter hinab in die Täler folgen. Dann kann man sie in Höhen zwischen 3000 und 5000 Metern beobachten.

Geduld muss man dennoch aufbringen. Jeden Tag verlassen wir mit Sonnenaufgang unser Zeltlager auf knapp 4000 Metern Höhe, folgen dem Verlauf mehrerer Täler, überwinden Hügel und Felsspalten und tasten uns auf vereisten Flüssen voran. Bei minus 15 Grad beißt jeder Atemzug in der Nase, das Wasser in den Trinkflaschen gefriert. In der ungewohnten Höhe setze ich langsam und konzentriert einen Schritt vor den anderen. Jigmet dagegen ist geübt darin, das Terrain abzusuchen. Beinahe stündlich läuft ein Blauschaf, ein Steinbock oder ein Fuchs vor die Linse seines Teleskops.

Der Gedanke, dass der rauchgraue Räuber, den wir so innig herbeisehnen, ganz in der Nähe ist und sich keine unserer Bewegungen entgehen lässt, macht unsere Suche zur Obsession. Nach einigen Tagen halten wir jeden von der Erosion verformten Felsen für einen Schneeleopardenkopf und vermuten das gefleckte Tier hinter jedem noch so kleinen Gebüsch. Nachts besucht er unsere Träume. Tatsächlich verschmilzt die Bergkatze zuweilen so gekonnt mit ihrer Umgebung, dass man ihr in Teilen Ladakhs magische Kräfte zuschreibt. In Liedern und Erzählungen ist vom „Phantom der Berge“ die Rede, dessen klagendes Rufen den Menschen nachts den Schlaf raubt und Kindern die Haare zu Berge stehen lässt. Es ist dieses Heulen, der Paarungsruf des Schneeleoparden, das bei westlichen Bergsteigern immer wieder Gerüchte über den Yeti befeuert.

Dr. Rodney Jackson von der Snow Leopard Conservancy lächelt, wenn er solche Geschichten hört. Die Faszination, die von den letzten verbliebenen Schneeleoparden ausgeht, führt ihn seit über 30 Jahren auf die Spur der Tiere. Er hat früh erkannt, welches Potenzial der Schneeleopard für die Entwicklung ländlicher Gebiete in Ladakh besitzt. Und dass es sich lohnt, sich gemeinsam einzurichten, statt einander als Konkurrenten zu bekämpfen.

„Wir setzen dabei vor allem auf die Zusammenarbeit mit dörflichen Gemeinschaften. In Ladakh haben wir ein Bildungsprogramm initiiert, das Schulkindern die Vorteile eines funktionierenden Ökosystems nahe bringt. Farmern gegenüber argumentieren wir, dass der langfristige Nutzen durch den aufkommenden Tourismus größer ist als der kurzfristige Schaden, den ein Schneeleopard anrichten kann. Gleichzeitig arbeiten wir darauf hin, dass die Gehege, in denen das Nutzvieh nachts untergebracht ist, durch Elektrozäune verstärkt werden. Auf diese Weise können Schafe oder Kühe nicht gerissen werden.“ Dr. Jackson und sein Team haben verstanden, welch kostbaren Schatz die rauen Hänge des Himalaya beherbergen.

Alle 20 Bewohner des Dorfes Rumbak sind an diesen Abend zusammengekommen. Während sich „unser“ Schneeleopard längst in ein einsames Versteck zurückgezogen hat, singen und tanzen wir bis Mitternacht zu ladakhischer Volksmusik und denken an die unvergesslichen Ereignisse des Tages.

Literatur: Thomas Bauers Ladakh-Reisebuch „Nurbu – Im Reich des Schneeleoparden“, erscheint 2012 im Wiesenburg Verlag. Mehr zum Autor: www.literaturnest.de

Die Reise in den Hemis-Nationalpark wird von Planeta Verde ( www.planeta-verde.de ) und KarmaQuest ( www.karmaquest.com ) jeden Winter (Ende Februar / Anfang März) angeboten.