Eine Glosse von Bernd Schiller

Immer mehr Restaurants haben nicht mehr nur eine "gute Küche", sondern ein "Kulinarium". Diese Häuser bieten dann auf ihren Speisekarten, die keineswegs für königliche Hochzeiten gedacht sind, "Erlebnisgastronomie" an, "lukullische Events", "schwungvolle Gerichte", ja sogar, wie im feinen Adlon am Brandenburger Tor, "eine Geschmacksexplosion". Wow! Dichtkunst, so scheint es, hat auf vielen Menükarten die Kochkunst abgelöst: "Erlesene" Speisen, im doppelten Sinne des Wortes, sprechen und singen gern miteinander, im "Dialog von Seeteufel und Lachscarpaccio", "von der Valrhone-Schokolade und Passionsfrucht", im "Duett von Saibling und Perlhuhn" oder "von Tomate und Mozzarella mit dem Filet der Paprika".

Zwar wusste schon vor mehr als 200 Jahren ein gewisser Joseph de Berchoux, der Erfinder des Begriffs "Gastronomie", dass "ein Gedicht niemals ein gutes Essen ersetzen kann". Und noch viel früher, um 1650 herum, hat sein französischer Landsmann Molière eine seither gern zitierte Wahrheit ausgesprochen: "Ich lebe von guter Suppe, nicht von schöner Sprache." Aber er wusste andererseits auch, dass "der Weise auf alle Ereignisse vorbereitet" sein sollte. Und das Event beginnt heute eben bereits mit dem Studium der Speisekarte. Leider endet es dort auch allzu oft. Es sei denn, man bestellt, zum Beispiel im Grandhotel auf dem Petersberg, eine "Karottensuppe mit elektrisierendem Orangenschaum". Da bedarf es schon größerer Weisheit, um angemessen vorbereitet zu sein. Auch der "Tee vom Rind", als Auftakt eines Wellness-Menüs im Grand Hotel Binz auf Rügen angeboten, macht neugierig.

Gern werden so manche Standard-Angebote durch "Kompositionen", "Variationen" oder ein viel versprechendes "Rendezvous" geadelt, etwa "vom Weiderind mit rosa gegartem Rücken an glasierten Egerlingen, Wachtelei und Parmesanluft" im Maison Messmer in Baden-Baden.

Bei so viel heißer Luft stimmt es hoffnungsvoll, dass manche Gastgeber an ein beruhigendes Event-Finale denken. Dies zum Beispiel verspricht ein von der Zeitgeist-Muse geküsster Lindenwirt aus dem Bayerischen Wald: "Sie werden eine angenehme, leichte Verdauung erleben."