Ordentlich durchgepustet werden und mit kundiger Führung die Natur genießen - das ist es, was die wenigen Gäste lieben.

Silke Schmidt sitzt, wenn sie mit sich und der Natur allein sein will, gern auf einer der alten, zugewachsenen Dünen westlich vom Dorf. Es ist ihr Lieblingsplatz zu jeder Jahreszeit, aber nie scheint es dort und anderswo auf Wangerooge so ruhig, so einsam zu sein wie in diesen Tagen. Der Strandhafer wirkt trocken und farblos. Die Möwen lassen sich lautlos vom Ostwind tragen. Aber dann kriecht auf einmal eine fahle Nachmittagssonne über den Deich, die Gräser und kleinen Sträucher leuchten silbern auf. Und die Möwen beginnen wieder zu schreien.

Winter an der Nordsee, auf einer Insel, die eigentlich geschlossen hat. Silke Schmidt, Biologin und Chefin des Nationalparkhauses auf Wangerooge, liebt die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern. Das milchig-helle Licht, so sehen es mit ihr auch die wenigen Kurgäste, die ganz bewusst gerade jetzt gegen den Wind laufen, zeichnet scharfe Konturen. Selbst wenn Sturmwolken am Horizont aufziehen, empfinden die Liebhaber diese Szenerie, die Luft und den besonderen Glanz als prickelnd und einfach schön.

Es klärt sich manches. Umstritten bleibt aber, ob Wangerooge oder Baltrum nun die kleinste der sieben ostfriesischen Inseln ist. Das hängt, so sagen die Experten, von der Tide ab. Klar hingegen ist dies: Wangerooge, nach Meinung der Kurverwaltung um die fünf, nach anderen Messungen sogar knapp acht Quadratkilometer groß, gehört nur geografisch, nicht aber politisch zu Ostfriesland. Über dem Leuchtturm, einem der Wahrzeichen dieser Insel, weht nämlich seit eh und je eine Flagge, die bis heute die Zugehörigkeit zum Land Oldenburg signalisiert. Die knapp tausend Einwohner machen daraus, anders als in früheren Zeiten, kein Gedöns mehr.

Wichtiger ist den meisten Wangeroogern, dass sie auf eine der ältesten Seebad-Traditionen in Deutschland verweisen können. Seit 1804 baden hier "insbesondere empfindliche Frauenspersonen, die ihre verlorne Gesundheit wiederzufinden hoffen", wie es seinerzeit hieß (nur Norderney und Heiligendamm hatten das Geschäft mit dem Tourismus noch etwas früher erkannt). Aber wohl niemand wäre damals auf die Idee gekommen, sich schon im Winter der frischen Luft und der rauen See auszusetzen.

So richtig viel hat sich daran nicht geändert. Von "Toter Hose" in der Vorvorsaison sprechen sogar manche "Offiziellen" im Kurbetrieb, hinter vorgehaltener Hand, versteht sich. Tatsächlich wirkt die ohnehin rund ums Jahr autofreie Insel mindestens noch bis Ende März wie ausgestorben. Kein Kurkonzert, keine organisierte Strandgymnastik, kein Bambini-Lauf für die ganz Kleinen.

Finden Sie das passende Hotel an Ihrem Reiseziel mit der Hotelsuche auf abendblatt.de

Das einzige Kino hat zu, auch der "Pudding", eine ebenso traditions- wie aussichtsreiche Institution unter den Inselcafes, ist noch geschlossen, ebenso der "Klabautermann", das "Diggers" und die Bar "Lütt un Lütt". Den Zünftigen aber, die gerade wegen der Stille kommen, ist das alles nur recht. Ordentlich durchgepustet und dann einen heißen Tee bei Birgit im "Treibsand". Das ist es, was sie lieben. Oder in aller Ruhe im neuen Spa des Hotels "Uptalsboom" saunieren und danach bei Hanken in der Friesenstube eine frische Kliesche genießen, einen Plattfisch, den man anderswo auch Scharbe nennt.

Auch wer sich friesischer Lebensart nähern will, hat dazu in diesen Wochen gute Gelegenheiten. Zum Beispiel bei Kuni Kummer, König der Strandkörbe und Kugelwart im Bossel-Club, dem größten unter den vielen Vereinen auf der Insel. In seiner Werkstatt repariert er Strandkörbe: Salz und Wind und Gischt nagen an ihnen, aber manchmal toben sich auch die Besucher nächtlicher Partys an ihnen aus. Mehr als 700 Körbe müssen nach jeder Saison überholt werden, weit über die Hälfte des Bestandes.

In seiner Freizeit bosselt Kuni, und zwar mit Leidenschaft. Jetzt ist die hohe Zeit des friesischen Nationalsports. Jetzt werfen sie ihre Kugeln auf der Straße nach Westen, ungestört von Radlern oder Wanderern. Es wird um Schweinehälften gebosselt und die Tradition gepflegt. Kräftiges Essen und ein zünftiger Schluck gegen die Kälte gehören allemal dazu.

Fortsetzung abends in der "Kogge". Das ist die angesagteste aller Kneipen. Dort wird geschnackt und gesungen und gestritten. Und der Shanty-Chor De Schippratz hat hier seine Probebühne. Spätestens nach dem vierten Bier kann es vorkommen, dass alle zusammen den "Hamborger Veeermaster" anstimmen, Insulaner, Wintergäste, die zwölf Shanty-Sänger.

Wenn Bounty, der Wirt, dann alle Döntjes erzählt hat, und wenn sein Spezialgetränk "Insulanerblut" (Wodka auf Lakritz) mehrfach die Runde gemacht hat, wird diskutiert: über die Tretminen, die zu viele Hunde auch dort hinterlassen, wo der Strand nicht für sie ausgeschildert ist, über die Notwendigkeit eines schicken Golfplatzes, über den geplanten Windpark.

Draußen, am Wasser und auch im Inselinnern, bieten Silke Schmidt und ihre Ranger vom Nationalparkhaus auf geführten Wanderungen auch jetzt tiefe Einblicke in die Natur, selbst wenn nur eine Handvoll Interessierter mitmarschiert. Wie kommt das Salz ins Meer oder der Sand an den Strand ? Solche Fragen, dazu Wind und Wellen, Wiesen und Watt werden erklärt, und wenn es gar zu sehr stürmt, zieht man um ins idyllische und gut geheizte "Rosenhaus". Dort, im alten Dorfkern, haben die Naturschützer ihren Sitz, dort lassen sich auch Seeanemonen, seltene Fische und Krebse in einem großen Aquarium bewundern und unter Aufsicht füttern.

Wenn sich schon bald nach Ostern die Ringelgänse wieder über die Salzwiesen ausbreiten, wenn Annemarie Heinken wieder ihre fröhlichen Malkurse mit Kleinkindern veranstaltet, wenn aus der Jugendherberge neben dem mächtigen Westturm, seit über 75 Jahren das eigentliche Wahrzeichen der Insel, die Gruppen wieder zu Radtouren aufbrechen, wenn also der Winterschlaf endgültig beendet ist, wird der Inselchronist Hans-Jürgen Jürgens, Jahrgang 1926, im urgemütlichen Cafe "Teestube" die kalte Zeit noch einmal zurückholen: "Wangerooge im Packeis" heißt einer seiner beliebten Vorträge: dramatische Geschichten und Bilder aus Zeiten, in denen es noch echte Winter gab.

Zum Beispiel vor 80 Jahren, als die Insel gleich drei Monate am Stück zugefroren war.