Die Spuren der Hethiter führen nach Zentralanatolien zum Unesco-Welterbe Hattuscha, der einst so prachtvollen Metropole der Antike

Selo kennt Hattuscha wie seine Westentasche. Und das will etwas heißen. Denn was deutsche Archäologen in den letzten 100 Jahren von der einstigen prachtvollen Metropole der Hethiter peu à peu sorgsam ausgebuddelt haben, ist nicht nur überaus reichhaltig, sondern auch weitläufig verstreut auf dem hügeligen Gelände: Mauern und Fundamente von Tempeln und Palästen, Stadttore mit mächtigen Wächterfiguren, Wälle und Tunnel, Kultsteine, Wasserbecken, Keilschriftzeichen und vieles andere mehr.

Allerdings: Dieses weit aufgeschlagene Geschichtsbuch verrät auf den ersten Blick nur Fachleuten seine Geheimnisse; um die uralten Geschichten lesen zu können, brauchen normale Reisende schon ein gerüttelt Maß an Fantasie und - mehr noch - sachkundige Führer. Hier kommen Selo und Achmed ins Spiel: Kunsthistoriker der eine, Ausgrabungshelfer der andere und beide ständig in Hattuscha auf Achse.

Hier also, 150 Kilometer östlich von Ankara und umgeben von einer mehr als sechs Kilometer langen Wehrmauer, hat Hattuscha einst stolz auf den Hügeln gethront: Die sagenhafte Hauptstadt des Hethiter-Großreiches, das im 2. Jahrtausend vor Christus fast ganz Anatolien und etliche Vasallenstaaten beherrschte - zum Beispiel auch Troja, wie man heute weiß. Der Großkönig verkehrte auf Augenhöhe mit Pharaonen und Babyloniern, man handelte und verhandelte miteinander, schlug sich gegebenenfalls aber auch kräftig aufs Haupt. Berühmtestes Beispiel: Die Schlacht von Kadesh (1274 v. Chr.) im heutigen Syrien - vom großen Ramses II. propagandistisch verfälscht dargestellt im Felsentempel von Abu Simbel. Eine Kopie des anschließend zwischen dem Pharao und König Hattusili III. geschlossenen ältesten bekannten Friedensvertrages ist übrigens im Uno-Gebäude in New York zu sehen.

Dass heutzutage vieles bekannt ist von Geschichte, Religion und Kultur dieses lange vergessenen Volkes, ist vor allem 30 000 Tafeln mit akkadischer Keilschrift zu verdanken, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Hattuscha gefunden und kurz darauf entziffert wurden. So weiß man inzwischen etwa, dass die Hethiter religiös tolerant waren: "Wenn sie andere Völker unterwarfen, stürzten sie nicht wie allgemein üblich deren Götter, ganz im Gegenteil: Sie übernahmen diese in ihr eigenes Pantheon, um sie gnädig zu stimmen und sich nicht ihrer Rache auszusetzen", erklärt Selo und verweist auf die 31 Tempel und Heiligtümer von Hattuscha, dem "Reich der tausend Götter".

Ihren wichtigsten eigenen Gottheiten begegnet man an Hattuschas eindrucksvollstem Ort - dem Felsheiligtum Yazilikaya. In die Wände zweier Felskammern sind Prozessionen männlicher und weiblicher Gottheiten eingemeißelt. An ihrer Spitze stehen der Wettergott Teschup und die Sonnengöttin Hepat. Beide Gottheiten werden von den heiligen Stieren Hurri und Scheri begleitet. Wie die religiösen Feste der Hethiter an diesem Ort abliefen, wurde auf Keilschrifttafeln niedergeschrieben, denn nur die präzise Durchführung der Rituale sicherte das Wohlwollen der Götter.

Wie wehrhaft Hattuscha einst war und wie großartig die Stadt auf Besucher gewirkt haben muss, lässt sich an den Resten der imposanten Stadtbefestigung ermessen. Am Löwentor etwa mit seinen bis in dreieinhalb Meter Höhe erhaltenen parabolisch zulaufenden Türpfeiler-Monolithen demonstriert Achmed, wie die Torkammer bei einem Angriff gesichert und zur Falle für feindliche Krieger wurde. Ebenso spannend: der Gänsemarsch durch den unterirdischen Tunnel; die einzig erhaltene von ehemals acht sogenannten Poternen, durch die Krieger unbemerkt in den Rücken von Belagerern gelangen konnten - so vermutet man. Hattuschas jüngste Attraktion ist gerade mal fünf Jahre alt, dafür aber besonders eindrucksvoll. Gleich am Eingang nämlich rekonstruierten die Archäologen ein 65 Meter langes Stück der alten Wehrmauer. Acht Meter hoch, mehrere Meter dick und mit zwei Wehrtürmen besetzt. Das Ganze aufgeschichtet wie zu Hethiter-Zeiten aus ungebrannten Lehmziegeln. Ein Projekt zur experimentellen Archäologie, das weltweit ziemlich einmalig ist. "Und nun stellt euch vor, dass dies hier gerade mal ein Prozent der originalen Stadtmauer darstellt", verstärkt Selo das ehrfurchtsvolle Staunen der Besucher.

Aber auch außerhalb des Unesco-Welterbes Hattuscha stößt man auf markante Spuren der Hethiter: in Alacahöyük das Sphinx-Tor mit Doppeladler, einst Zugang zu einem ausgedehnten Tempel-Palast-Komplex. In Çorum ein kleines, aber feines Museum mit allerlei Gebrauchs- und Kultgegenständen, Keilschrifttafeln, Keramiken, Waffen, Schmuck sowie zwei detailgetreu nachgebauten Fürstengräbern samt Skeletten und Beigaben. In Ankara schließlich vervollständigt die grandiose Hethiter-Abteilung im Museum für Anatolische Zivilisationen das Mosaik dieses ungewöhnlichen Volkes.

Hier treffen wir - mal aus Ton geformt, mal aus Metall gegossen - Hurri und Scheri wieder, die heiligen Stiere der Götter. Hier sieht man Götterstatuetten aus Elfenbein und Löwenfiguren aus Bergkristall, Trink- und Opfergefäße in Form tierischer und menschlicher Gestalten, Sonnenscheiben aus Gold.

Der imposanteste Schatz aber dürften sicherlich die monumentalen Stein-Plastiken und kunstvollen Reliefs im Innenraum sein, die einst Tempel, Paläste und Stadttore schmückten. Mit Königen und Göttern, Fabelwesen und Gauklern, Opfer- und Kampfszenen, Jagd- und Kriegsbildern.

Das hethitische Großreich und Hattuscha waren zu diesem Zeitpunkt bereits untergegangen. Warum - das ist bis heute nicht schlüssig geklärt. Was aber geblieben ist von diesem Volk und seiner Kultur, fasziniert nicht nur Wissenschaftler.