Sie kennen die schönsten Strände der Erde, trotzdem kehren die Rettungsschwimmer jeden Sommer zurück auf die Nordsee-Insel

Eigentlich sollte dieser Text so beginnen: Rettungsschwimmer, indianischer Wuchs, blickt aufs Meer. Ein Schrei! Aufhorchen! Er spurtet in die Fluten und zieht einen Menschen an Land, der einen geometrisch einwandfrei gebogenen Wasserstrahl und einen kleinen Hering speit. So, wie man ihn sich eben vorstellt, den Arbeitstag eines Sylter Lebensretters.

Aber nun weicht bekanntlich die Vorstellung nicht selten von der Wirklichkeit ab, und deshalb beginnt der Text so, dass Marcus Graening auf dem Deck seines Wachturms sitzt und sich lediglich ein paar Marienkäfer von der Schulter streicht. Kein zu rettender Badegast, was jedoch nicht bedeutet, dass nichts zu tun ist. Zwei irrtümlich gegen einen Mast statt gegen einen Ball geschlagene Kinderzehen hat Graening bereits am Morgen versorgt und ist gegen Mittag einem abgetriebenen Ball so weit auf seinem Rettungsbrett hinterhergepaddelt, dass man denken konnte, er würde über den Horizont kippen.

Nun hat Graening in seiner mittlerweile über 15-jährigen Laufbahn schon wildere Tage erlebt. Aber auch schon ruhigere. Und von diesen weitaus mehr. Schließlich bekommt er sein Geld nicht dafür, dass etwas passiert, sondern damit nichts geschieht. Genau wie seine Kollegen. Deutschlands einzige professionelle Rettungsschwimmer wachen auf Sylt über das Kostbarste, was die Insel besitzt: das Meer und den Strand. Rund 40 Kilometer feinster Sand mit 33 Rettungstürmen, auf denen fast 80 Schwimmer Dienst tun, junge Männer meist, die aussehen wie das Personal einer überlangen Becks-Werbung: blond, durchtrainiert, die Sonnenbrille so fest ins ewig nasse Haar gesteckt, dass sie vermutlich auch beim Rettungssprung in die Fluten nicht herausfällt.

Graening, studierter Geograf, ist bereits über 40 und damit einer der Erfahrensten. Auch wenn er sich noch keinen Zusatznamen erschwommen hat. Wie Martin, den sie "die Maschine" nennen, oder "Helge, das Rettungsboot". Surfer sind sie fast alle, deshalb kamen und kommen sie hierher - wegen der Wellen, auf denen sich mit dem Surfbrett nur wenige Momente stehen, aber über die sich stundenlang reden lässt. Wie sie rollen, wie sie brechen. Die Wellen sind es letztlich, die hier alles in Bewegung halten. Schließlich gibt es nicht nur diese sonnensatten Tage, sondern auch die stürmischen, an denen das Wasser, einer riesigen Kralle gleich, nach der Insel greift und Massen von Sand mitreißt. Pro Jahr verliert die Westküste bis zu eineinhalb Meter, sofern sie nicht durch Sandvorspülungen ausgeglichen werden. Riesige Schiffe saugen dafür weit draußen in der Nordsee Sand vom Meeresboden auf und pressen ihn durch Rohre Richtung Küste. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist die Küstenlinie dadurch weitgehend gleich geblieben.

Dafür schenken die Gezeiten Graening jeden Tag immerhin für ein paar Stunden 50 bis 70 Meter zusätzlichen Strand - bei Ebbe. Das kann nicht schaden, vor allem, wenn sich der Strom der Gäste aus der "Sansibar" den Weg zum Wasser bahnt. Im legendären Dünenrestaurant herrscht schon am späten Vormittag Prosecco-Laune, und bei jedem Schritt muss man achtgeben, nicht auf einen Chihuahua zu treten. Aber Unfälle wegen Alkohol? Streitereien? Graening schüttelt den Kopf. Nicht einmal habe er das erlebt. Ein guter Strand sei das hier, fast ein Stück Heimat, so wie es für den Rettungsschwimmer jeder Abschnitt auf Sylt werden kann, an dem er über Jahre hinweg dieselben Menschen an- und wieder abreisen sieht. Der Strand als Familienwohnzimmer, das ist auf keiner anderen Insel so ausgeprägt wie hier. Auch wenn nicht ganz klar ist: Welcher Teil der Familie ist der Rettungsschwimmer?

Da zuckt auch Tom Surtmann die breiten Schultern. Der sitzt einige Kilometer weiter nördlich von der "Sansibar", in Kampen, und hat zwei Damen im Blick: Frau Hunger zur Linken, "und da ist Frau Huber!", sagt Surtmann. Frau Huber ist seit mehr als zwei Jahren Dauergast in Kampen, mehrmals am Tag schaut sie bei der Besatzung im Wachturm vorbei, um dann wieder überhastet aufzubrechen, so, wie es die Möwen tun. Frau Hunger kommt dagegen schon weitaus länger, besitzt allerdings die Gelassenheit einer 88-jährigen Rentnerin. Ruhig schlendert sie zurück zum Strandkorb, nachdem sie die übliche Spende für die Männer im Wachturm in deren Kaffeedose gesteckt hat. Schließlich jährt sich am heutigen Tag wieder die Beinahe-Katastrophe, bei der sie fast ihre Tochter verloren hätte. Ein sonniger Tag war es, erzählt Frau Hunger, als die junge Frau in eine Rückströmung geriet. Panisch kämpfte sie dagegen an, dass sie nicht aufs Meer hinausgezogen wurde, bis sie keine Kraft mehr hatte. Aber die Rettungsschwimmer entdeckten sie noch rechtzeitig, auch wenn sie bereits bewusstlos war, als sie am Ende geborgen wurde.

Wann das genau geschehen ist, kann die Dame aus Hamburg nicht sagen. Vor 18 Jahren? Vor 19? Schließlich kommt sie bereits weitaus länger nach Sylt. In den Fünfzigerjahren hat sie ein Haus in Kampen gekauft, als das noch ein unaufgeregter Ort war und die Preise nicht dünenhoch. Immerhin befindet sich seit vergangenem Jahr hier sogar die - nach Quadratmetern gerechnet - wohl teuerste Immobilie der Welt. 4,8 Millionen Euro sollen die 30 Quadratmeter Wohnfläche und ein 2400 Quadratkilometer großes Grundstück namens "Waterküken" am Kampener Watt kosten. Die schönsten Dinge auf Sylt sind ohnehin für jedermann unbezahlbar: das Herumliegen am Kampener Strand zum Beispiel, der vor einiger Zeit von einer britischen Tageszeitung unter die zehn besten Strände der Welt gewählt wurde. Oder das bloße Betrachten des Horizonts, wenn die Sonne am späten Nachmittag in Zeitlupe Richtung Meer zu fallen scheint und gleichzeitig schon der Mond am Himmel hängt wie ein angenähter Knopf.

Noch aber ist erst Mittag, der etwas kugelige Onkel Millo rückt einen seiner Strandkörbe ins bestmögliche Licht. So wie jeden Tag, wie jede Saison, in der er mit rosafarbenem Shirt und stämmigen Füßen den Strand auf- und abmarschiert und die grau melierten Locken wippen. Eine geradezu klassische Strandlaufbahn ist es, auf die Jürgen "Onkel Millo" Miljkovic zurückblicken kann. Fast 30 Jahre hat er als Rettungsschwimmer gearbeitet, seit 16 Jahren gebietet er über 1200 Körbe, und ist jeder Gast versorgt, dann setzt er sich im Wachturm zur neuen, jungen Generation der Schwimmer, und sie unterhalten sich darüber, wie alles ist und alles war.

Gut kann Onkel Millo erzählen, nur reicht seine Erinnerung nicht annähernd so weit zurück wie bei dem Mann, dessen Namen nicht wenige der Rettungsschwimmer mit großer Ehrfurcht nennen: Uwe Draht. Eine großgewachsene, kräftige Gestalt, die mit tiefer "Es war einmal"-Stimme schon von einer Zeit am Sylter Strand berichten kann, als die Rettungstürme noch nicht aussahen wie Filmkulissen aus Baywatch. Generationen von Rettungsschwimmern hat Draht ausgebildet, die Brandungsprüfung abgenommen, bei denen jeder an einem Sturmtag beweisen muss, ob er das Zeug zum richtigen Retter auf Sylt hat. Noch mit weit über 60 Jahren zog der Badebetriebsleiter Draht bei solchen Prüfungen mitunter selbst die Schwimmhose an und schoss durch die Wellen. Inzwischen ist er etwas ruhiger geworden, Draht ist 82.

Aber noch immer beobachtet er das Leben am Strand und die Veränderungen. Dass viel weniger Menschen baden zum Beispiel, weil ihnen das Wasser zu kalt ist. Aber manche Dinge sind auch über die Jahrzehnte hinweg gleich geblieben. Wenn der Ostwind das Meer wie ein Plätteisen glättet, dann fahren die Rettungsschwimmer noch immer hinaus zu den Makrelenschwärmen und halten Fäden mit Haken ins Wasser. Den Fang bereiten sie dann am Strand zu, und wenn sie dann essend im Sand sitzen, dann sind die Fische vermutlich die Einzigen, die es bedauern, jemals nach Sylt gekommen zu sein.