Die Insel La Réunion im Indischen Ozean ist ein Wanderziel ersten Ranges. Die Landschaft wirkt, als sei sie von kreativen Riesen erschaffen worden

Es müssen Riesen gewesen sein! Nicht die üblichen Tollpatsche, sondern zwei, drei geschickte Jungs, die an einem sonnigen Morgen wie diesem plötzlich die Lust überkam, etwas noch nie Dagewesenes in die Welt zu setzen. Kurz entschlossen schlugen sie ein Loch ins Gestein, mehrere Kilometer breit und gut einen tief.

An seinem Grund formten sie ein paar spitze Kegel und Felsrippen, schnitten enge Täler dazwischen für die Flüsse und bestäubten das Ganze schließlich mit grünem Pulver. Dann setzten sie winzige Häuser auf die Spitzen der kleinen Berge, steckten Bäumchen für Bäumchen ein paar Wälder ein und schärften die Kanten des Kessels noch einmal nach. Als alles getan war, klatschten sie glücklich in die Hände: "Fantastisch", strahlte der eine. "Wie Maccu Piccu ohne Ruinen", jubelte sein Freund - und genauso begeistert blicken heute, Jahrtausende später, die Wanderer vom Kraterrrand in den Cirque de Mafate hinunter.

Rund drei Stunden dauert der Aufstieg über Geröll, Fels und Blockgestein zum Gipfel des Le Grand Bénare, immer am oberen Rand des Kessels mit seinen grauen Wänden und dunkelgrünen Matten. Manchmal dröhnt ein Hubschrauber vorbei: Touristen auf Rundflug oder Materialnachschub für die Einwohner - die Dörfer sind nur zu Fuß oder aus der Luft zu erreichen.

La Réunion liegt im Indischen Ozean, 800 km östlich von Madagaskar, hat an der breitesten Stelle einen Durchmesser von 70 Kilometern und gehört zu Frankreich. Die rund 800 000 Einwohner blicken auf französische, afrikanische, indische und chinesische Vorfahren zurück. Sie sprechen Französisch und Kreolisch, zahlen in Euro und leben vom Zuckerrohranbau, vom Tourismus und von der Unterstützung aus dem Mutterland.

Etwa 1000 Kilometer Wanderwege überziehen die Insel. Sie erlauben anstrengende Mehrtagestouren, etwa durch die drei Cirques, die sich um den Piton des Neiges gruppieren, den mit 3071 Metern höchsten Berg. Gleichermaßen taugen sie für Kurzausflüge, die den Vorteil haben, dass Zeit bleibt für Begegnungen mit dem Alltag der Bewohner.

Der Rückweg vom Grand Bénare führt am "Maison du Geranium" in Maido vorbei. Gerade steckt Jean-Jacques Euphrosin einen kleinen Berg Geranien der Sorte Pelargonium graveolens in einen alten Dampfkessel. Er feuert mit Akazienholz an, und schon bald fallen destillierte Tropfen in die Flasche am Ende der Kühlspirale. Etwa 100 Betriebe dieser Art gibt es noch auf der Insel, 2500 waren es bis in die 80er-Jahre. Der Großteil der Geranienessenz geht in die Parfümindustrie nach Frankreich. Im eigenen Laden finden sich Geranienbäder, Geranienseife und Geranienöl. "Ein Tropfen ins Krabbenragout", sagt Isabell Euphrosin, die schöne Geranienkönigin, "den Geschmack vergisst man ein Leben lang nicht."

La Réunion ist von erstaunlicher Vielfalt. Vom Regenwald über zerklüftete Klippen und gewundene Canyons bis zu kahlen Gipfeln reichen die Landschaftsformen: Ein ideales Terrain für Rafting-Touren, Reitausflüge, Tauchgänge, Surfen und Klettern. Doch die Königsdisziplin bleibt das Wandern.

Die Hügel rings um das Bergstädtchen Cilaos sind wild und romantisch, zackig und zerklüftet und bewachsen mit einem zottigen grünen Pelz. Langnadlige Kiefern wechseln mit ledrigen Mispeln, Lianen hängen von Bäumen, und aus einer Grotte grüßen Dutzende pastellfarbener Statuen der Jungfrau Maria und des St. Expedit. Am Bras de Rouge schießt das Wasser über glatt gespülte hellgraue Basaltfelsen waagrecht ins Nichts und donnert 100 Meter weiter unten in die Schlucht. Diesiges Licht fällt zwischen Tamarinden und Agaven. Es gluckert und rauscht, und von dem rutschigen Felsabbruch hält jeder respektvollen Abstand. Abends wälzen sich Nebel über die Hänge herunter, und es wird Zeit, ins Städtchen zurückzukehren. Das "leibliche Wohl" verlangt nach Befriedigung. In den Töpfen der kleinen Restaurants und Tables d'Hotes, Privatunterkünften mit Essen im Familienkreis, schmurgelt das Carri, ein Eintopf mit Huhn oder geräucherter Wurst. Dazu gehören die kleinen heimischen Linsen, deren Geschmack auf der ganzen Insel gerühmt wird.

La Réunion ist aus dem Feuer von Vulkanen geboren, vor zwei bis drei Millionen Jahren. Und in regelmäßigen Abständen werden die Einwohner lebhaft daran erinnert. Am 2. April 2007 brach der Piton de la Fournaise zum letzten Mal aus. Rot glühende Lava wälzte sich aus 600 Meter Höhe hinunter ins Meer, ein Schauspiel, das Tausende Einwohner live verfolgten. Jetzt liegt das Erdinnere als erstarrter, aber noch brüchiger schwarzer Brei über dem Hang. Ihn zu betreten ist verboten. Kommt trotzdem jemand auf die Idee, fährt innerhalb von Minuten die Polizei vor und jagt den Verrückten per Lautsprecher aus der Gefahrenzone.

Der Zugang von Westen ist ungefährlich. Schritt für Schritt geht es in den acht Kilometer breiten Vulkankessel Enclos Fouqué, in dem sich der Piton erhebt. Eine dichte Linie weißer Punkte führt die Wanderer, Rückweg-Garantie für den nicht so seltenen Fall, dass der Nebel einfällt.

Der Aufstieg zum Cratère Dolomieu ist leider gesperrt, weil der Ausbruch ihn zum Einsturz gebracht hat. Aber was heißt "leider"? Der Weg zum Cratère Rivals, rund fünf Kilometer hin und zurück, erweist sich als wunderbare Alternative: So verblüffende Gestalten und bizarre Formen kann Lava also annehmen. An versteinerten Fladen von Riesenkühen geht es vorbei, über die Bohrgänge von Riesenwürmern, zwischen den Hügeln von Riesentermiten hindurch. Immer wieder hat jemand Taue sorgfältig zu Bergen von Schlingen gelegt - von Stricklava sprechen die Fachleute. Dann bricht die Oberfläche auf, wird spitzer, schärfer, kantiger - ein Härtetest für Wanderschuhe. Ganze Felder bröslig gebratenen Hackfleischs aus Stein lösen den ausgewalzten Teig ab, poröse Schlacke, leicht wie Kunststoffschaum, knirscht unter den Füßen. Am Endpunkt, ein paar kleineren Kratern, die wie Kamine aus der Erde ragen, schimmert das Gestein in einer Mischung aus Drachengrün, Feuerrot, Schmutzigweiß und Schwefelgelb, ein ungesunder Giftcocktail im weiten Schwarzgraubraun. Auch mit Farbe haben sie sich also mal so richtig ausgetobt, die Riesenkinder von La Réunion.