Weit nördlich des Polarkreises liegt Spitzbergen - ein Gebiet unberührter Natur

Schneebedeckte Bergspitzen spiegeln sich im klaren Wasser des Fjordes. Türkis leuchtende Eisgebilde gleiten am Schiff vorbei. In der Nacht hat der Lilliehöök-Gletscher "gekalbt" und präsentiert stolz seine neu entstandenen Abkömmlinge. Behutsam schieben sich die kleinen Polar-Circle-Boote durch die pittoresken Eisgebilde: Arctic Art at its best - Eiskunstwerke der Natur. Überwältigt vom Naturspektakel verstummen die Gespräche. Eine Frau lächelt, gleichzeitig laufen ihr Tränen über die Wangen.

Arktis leitet sich von dem griechischen Wort "arktos" ab und bedeutet so viel wie das Land unter dem Sternbild des großen Bären. Hier, zwischen Norwegen und Nordpol liegt Spitzbergen, die größte Insel des norwegischen Svalbard Archipels. Und oft wird der gesamte Archipel einfach Spitzbergen genannt.

Das Archipel Svalbard am 80° Breitengrad

Das alte Wikinger-Wort Svalbard bedeutet "kalte Küste". Ein treffender Name, denn im Grunde herrscht hier noch immer Eiszeit. Der überwiegende Teil der Inselgruppe ist das ganze Jahr unter Eis und Schnee verborgen, nur in der kargen Tundralandschaft einiger Täler grünt und blüht es während des kurzen Sommers. Die Durchschnittstemperatur liegt bei minus vier Grad Celsius. Kalt ist es auf Spitzbergen immer. Mal mit dem Licht der Mitternachtssonne, mal im Dunkel der Polarnacht. Immerhin 3000 Menschen halten es hier aus. Sie teilen sich die Insel mit der gleichen Anzahl Eisbären.

Vor der imposanten Kulisse des Lilliehöök-Gletschers räkelt sich gemächlich ein Walross auf einer Eisscholle. Um das Tier nicht zu vertreiben, werden die Motoren der Schlauchboote abgestellt, sie treiben lautlos zwischen den Eisschollen. Das Walross macht keine Anstalten zu fliehen. Eisbären sind seine einzigen natürlichen Feinde, und so scheint es keinen Grund zu geben, den Ruheplatz zu verlassen. Gelassen betrachtet es die sonderbaren Besucher und kratzt sich vor ihren Augen den mächtigen Körper. Eine Gruppe Dickschnabellummen, "Pinguine der Arktis" genannt, betrachten von der Nachbarscholle aus sicherem Abstand skeptisch das Geschehen.

Wenige Minuten später, auf dem Rückweg zum Schiff, hängen plötzlich tiefe Wolken über dem Fjord. Dichter Nebel umhüllt die Bergkuppen, wo eben noch strahlender Sonnenschein war. Ein Hauch von Mystik liegt über der Insel. "The best weather to smell the wilderness", sagt Stefan Lindberg - das beste Wetter, um die Wildnis zu riechen. Er ist der Kapitän unseres Hurtigruten-Schiffes auf der viertägigen Fahrt entlang der Westküste. Und wirklich - nirgends, so scheint es, ist die Natur in ihrer Ursprünglichkeit spürbarer.

Longyearbyen ist die Hauptstadt Spitzbergens. Der holländische Seefahrer Willem Barents entdeckte im Jahre 1596 Svalbard und benannte die größte Insel nach ihrer Bergsilhouette Spitzbergen. Im 17. Jahrhundert brach man aus Holland, England und Deutschland zur Jagd auf die Grönlandwale auf. Die "Hamburger Bucht" im Nordwesten der Insel erinnert an die Hamburger Walfänger.

Aber erst mit Gründung der Hauptstadt durch John Munro Longyear, der 1906 aufgrund des reichen Kohlevorkommens das erste Bergwerk baute, wuchs auch die Bevölkerung. Obwohl schon 1892 erste Kreuzfahrtschiffe Spitzbergen ansteuerten, war Longyearbyen noch bis in die 1980er-Jahre eine reine Bergwerksiedlung, in der Gäste nicht sehr willkommen waren. Das hat sich in den letzten 20 Jahren geändert. Neben Bergbau und Forschung hat heute auch der Tourismus eine große Bedeutung auf Spitzbergen, und Longyearbyen hat sich zu einer kleinen, lebendigen Gemeinde entwickelt. Vom komfortablen Hotel bis zum urigen Basecamp, dem "Hotel der Walfänger", finden sich Übernachtungsmöglichkeiten, Restaurants, Cafés und Bars.

Natürlich gibt es an Bord unseres Expeditionsschiffes Vollverpflegung und auch eine Bar, aber niemand erwartet eine Luxuskreuzfahrt. Die 75 Gäste des Motorschiffs "Expedition" verbindet die Liebe zur Natur, und davon gibt es genug. Walrosse, Eissturmvögel und Lummen, blau schimmernde Gletscherfronten und Eisberge präsentieren sich im wechselnden Licht der Mitternachtssonne. Wer besonderes Glück hat, entdeckt einen Eisbären auf Robbenjagd oder einen Wal im Eismeer.

"All you can see" lautet das Angebot bei der Umrundung eines der größten Gebiete unberührter Natur der Erde - im Sommer 24 Stunden täglich. Und weil niemand eine Szene des Spektakels verpassen möchte, findet nachts auch kaum einer der Expeditionsteilnehmer den Weg ins Bett. Heißer Kaffee hält warm und wach, die Ferngläser sind über die Reling gerichtet.

Von Kälte, Eis und Einsamkeit schreibt Hauke Trinks in seinem Buch "Leben im Eis". 1999 machte sich der Hamburger Physiker und Polarforscher von Övelgönne aus mit seinem Segelboot "Mesuf" auf die Reise nach Spitzbergen. Nahe der Hamburger Bucht ließ er das Boot einfrieren und verbrachte ein Jahr in der Einsamkeit der Eiszeit.

Longyearbyen ist Ausgangspunkt für alle Touren zur Spitzbergen-Erkundung. Die Siedlungen auf der Insel sind nicht miteinander verbunden, befestigte Wege gibt es außerhalb der Stadt auch nicht. Die Wildnis beginnt am Ortsausgang, markiert durch ein Warnschild: "Achtung Eisbären". Man sollte keinesfalls unbewaffnet auf Inselerkundung gehen. Wie andernorts Skier, werden hier Waffen verliehen. Sicherer ist es jedoch, sich einer geführten Gruppe anzuschließen. Im Sommer lässt sich Spitzbergen am besten zu Fuß oder auf dem Wasserweg entdecken. Auf Trekkingtouren oder Expeditionsfahrten per Schiff entlang der Küste. Angeboten werden viele Tagestouren, etwa zu den russischen Bergbausiedlungen, zum Prinz-Karls-Vorland und zum Tempelfjord. Es gibt Touren von drei bis elf Tagen entlang der Küste oder, wenn die Fjorde eisfrei sind, um die ganze Insel. Nach einer Sage der Inuit steckt am Nordpol der Nagel, an dem die Welt aufgehängt ist. Diesen Punkt zu überqueren, war das Ziel der Polarforscher, die Ende des 19. Jahrhunderts von Spitzbergen aufbrachen. Ziel des heutigen Tages ist die Überquerung des 80. Breitengrades nahe Moffen, einer kleinen Insel, die als Walross-Ruheplatz gilt.

Mit dreieinhalb Knoten manövriert Kapitän Lindberg das Schiff geschickt durch das Eis, bis die immer größer und dichter werdenden Schollen die Weiterfahrt verhindern und der Kapitän das Kommando zum Kurswechsel gibt. Die Natur unterwirft sich keinem Fahrplan.

Viele Menschen zieht es immer wieder nach Spitzbergen. Einige bleiben für Tage, andere für Jahre und wenige für immer. Was ist das Geheimnis einer Insel, die so unwirtlich ist, dass die Bäume nur einige Zentimeter hoch wachsen, und auf der im Winter ein Überleben kaum möglich ist? "Für mich ist es die Kombination von Freiheit, Unabhängigkeit und Abenteuer sowie die totale Abwesenheit aller negativen Begleiterscheinungen der Zivilisation", sagt Martin. Der junge Mann hat Spitzbergen während seines Studiums der Gletscherkunde kennengelernt und ist geblieben. Heute arbeitet er im Tourismus und vermittelt Naturfreunden die Einzigartigkeit der Insel. "Wer empfänglich ist, das Geheimnis von Spitzbergen zu entdecken, wird schnell vom Zauber der Insel eingefangen", sagt er.

Der Geist des Eisbären ist spürbar. Aber so wenig man in der Mitternachtssonne sein Sternbild sieht, so unsichtbar bleibt der König des Archipels während dieser Reise. Spitzbergen präsentiert nicht alle Geheimnisse nicht beim ersten Besuch.