Reinbek. Wir schreiben den 8. März 1964. Im baden-württembergischen Lörrach steht der Reinbeker Hanne Müller vor seinem großen Tag. Mit Dettmar Cramer, dem Trainer der Fußball-Juniorennationalelf, ist abgesprochen, dass der 18-Jährige im Spiel gegen die Schweiz zur zweiten Hälfte eingewechselt wird.
Doch auf dem Weg in die Kabine tritt Sepp Herberger, der ebenfalls anwesende legendäre Coach der A-Nationalmannschaft, an Cramer heran. Herberger will Müllers Konkurrenten auf Linksaußen, den Mönchengladbacher Werner Waddey, weiter unter die Lupe nehmen.
Ein Jugendländerspiel für Deutschland bestritten
Wird es also wieder nichts mit einem Auftritt des Spielers von Spiel und Sport (SuS) Bergedorf im DFB-Dress? Schließlich hatte Müller bereits ein Trainingslager verletzt absagen müssen. Nein! Cramer widersetzt sich Herberger, den alle ehrfürchtig nur „Chef“ nennen und pocht auf die getroffene Absprache.
Also betritt Hanne Müller nach der Pause den Platz. Seine Mitspieler sind ein gewisser Franz Beckenbauer und Berti Vogts. „Wir haben 2:1 gewonnen, weil Beckenbauer zweimal nach vorne gegangen ist und zweimal getroffen hat“, erinnert sich Müller.
Doch während Beckenbauer später der „Kaiser“ wird, 1974 gemeinsam mit Vogts als Spieler den Weltmeistertitel holt und beide selbst die Nationalmannschaft coachen werden, bleibt für Hanne Müller das Spiel in Lörrach das einzige mit dem Adler auf der Brust. Trotz anderer Angebote verlässt der bodenständige Typ, der seit 65 Jahren im gleichen Block wohnt, SuS Bergedorf nie. Am heutigen Freitag wird einer der größten Amateurfußballer unserer Region 75 Jahre alt.
Einer der besten Hamburger Fußballer des Jahrhunderts
Als das „Hamburger Abendblatt“ 1999 die 100 besten Fußballer der Hansestadt des abgelaufenen Jahrhunderts kürt, taucht Müllers Name an Platz 97 noch vor St.-Pauli-Legende Jürgen Gronau auf. Hans-Rainer Müller, Spielertyp Dörfel, steht da. Doch mit seinem richtigen Vornamen nennt ihn nur Ehefrau Karin, mit der er seit 53 Jahren verheiratet ist. „Und auch nur, wenn er nicht hört“, schmunzelt sie.
Für alle Welt ist er nur der Hanne. „Er war ein Ausnahmefußballer mit unwahrscheinlichen Fähigkeiten“, erinnert sich sein langjähriger Freund und Mitspieler Gerd Knull. Und Wolfgang Drühmel, ein weiterer ehemaliger Mitspieler ergänzt: „Wenn Hanne mir auf dem Platz entgegengekommen ist, wusste ich, was ich zu tun hatte. Hanne hat kurz prallen lassen und ich musste ihn dann lang schicken.“
Spezialität: Tore aus spitzem Winkel
Gegen den antrittsschnellen Linksaußen hatten die meisten Gegenspieler keine Chance. Entweder fütterte er dann den Mittelstürmer mit Flanken, oder zog – noch viel lieber – aus spitzem Winkel ab. „Tore aus spitzem Winkel waren Hannes Spezialität“, sagt Drühmel.
Dass der an der Wentorfer Marienburg beheimatete SuS Bergedorf Anfang der 1960er-Jahre eines der besten Nachwuchsteams in Hamburg stellte, lag auch an Hanne Müller. „Ich habe alle aus der Umgebung, die ein bisschen kicken konnten, mit zu SuS genommen. Nur bei Walter Dobberkau (später Profi beim FC St. Pauli, die Red.) habe ich es nicht geschafft. Da war der Vater dagegen“, erinnert sich Müller.
Die Reinbeker „Gang“ machte sich zu Fuß oder per Rad auf dem Weg zum Training und beging dabei auch manch Jugendsünde. „Nach dem Training haben wir schon mal Äpfel aus den Gärten geklaut. Das war unser Durstlöscher“, erinnert sich Müller.
Erfolgreichste TSG-Mannschaft aller Zeiten
Die Kameradschaft war der Grundstein für den Erfolg des TSG-Vorläufers. Zweimal gewannen sie in der Jugend die Hamburger Meisterschaft und standen zwei weitere Male im Endspiel. Als das Team gemeinsam zu den Herren aufrückte, gelang der Aufstieg in die dritthöchste Spielklasse. Bis heute der größte Erfolg der TSG-Fußballer.
Hanne Müller schaffte es überdies in die Hamburger und später in die norddeutsche Auswahl und empfahl sich so für den DFB. Dass auf das Jugend-Länderspiel keine Partien in der gerade neu gegründeten Bundesliga folgten, lag auch an der Trägheit der Hamburger Vereine. „Beckenbauer und Vogts hatten 1964 schon alle Vorverträge unterschrieben. Nur in Hamburg hat sich keiner gekümmert“, klingt bei ihm doch ein wenig Wehmut durch.
Sohn Carsten „Calle“ Müller tritt in die Fußstapfen
Einen Wechsel zum höherklassigen TuS Celle schlug er aber aus. Umziehen kam für ihn nicht in Frage. Zudem verhinderte eine Tuberkulose-Erkrankung ab 1968 für zwei Jahre jegliche sportliche Betätigung. Bei seinem Comeback gelang ihm dann gleich wieder ein entscheidender Treffer, auf den bis zum Ende der Laufbahn mit Anfang 60 noch viele folgen sollten.
Später traf dann wieder ein Müller im Heimatgebiet regelmäßig für die TSV Reinbek und die TuS Dassendorf. Hanne Müllers jüngerer Sohn Carsten, den alle nur „Calle“ nennen. Na ja, fast alle: „Calle sagt bei uns zu Hause keiner. Hier heißt er Carsten.“
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