Der Bundesliga-Schiedsrichter des SV Großhansdorf beendet seine Laufbahn am Saisonende. Er war bei Fußballspielen auf drei Kontinenten im Einsatz

Großhansdorf. Er ist mit Abstand der bekannteste Schiedsrichter Stormarns und wurde kürzlich auch zu Schleswig-Holsteins Unparteiischem des Jahres gekürt. Mehr als 200 Mal stand er als Linienrichter in der Fußball-Bundesliga auf dem Platz, war in fast 30 Ländern auf drei Kontinenten im Einsatz. Wembley-Stadion, Tripolis, Saudi Arabien. Nun hört Kai Voss auf. Etwa ein Dutzend Mal wird er noch die Seitenlinie auf- und ab rennen. Im Frühling ein letztes Mal.

Für seine Vernunftsentscheidung gebe es eine Mixtur von Gründen, sagt der 40-Jährige, der für den SV Großhansdorf pfeift, respektive die Fahne hebt, denn seit Jahren ist er überwiegend als Assistent im Einsatz. Zum einen schmerzt der Rücken, seit einem Bandscheibenvorfall vor zwei Jahren. Zum anderen ist der für das Mineralöl- und Energie-Unternehmen BP tätige Betriebswirt zunehmend beruflich unterwegs. Dem Ehemann und Vater einer zweijährigen Tochter bleibt kaum mehr private Zeit. „Stand jetzt fühle ich mich gut mit der Entscheidung“, sagt Voss. Aber dieses Gefühl, vor 70.000 Zuschauern auf dem Platz zu stehen, das Voss als „relativ genial“ beschreibt, das wird er sicherlich vermissen. Als Mentor oder Beobachter möchte er „der Schiedsrichterei irgendwie erhalten bleiben“. Aber seine aktive Zeit wird er im Sommer definitiv und für immer beenden, auch im Amateurbereich keine Spiele mehr leiten. „Ich möchte nach 16 Jahren im Profifußball einen klaren Schnitt machen.“

Schiedsrichter zu sein nimmt weit mehr Zeit in Anspruch als ein gewöhnlicher Nebenjob. Im Winter verbrachte Voss mit 60 Kollegen eine Woche auf Mallorca, im Trainingslager. Regelmäßig muss er an Lehrgängen teilnehmen und in der Hinrunde war er an jedem Spieltag im Einsatz, 16 Mal als Linienrichter in der Ersten oder Zweiten Liga, einmal als vierter Offizieller. Für ein Spiel ist Voss, der mit seiner Familie in Mönchengladbach in Hörweite des Borussia-Parks wohnt, oft zwei Tage unterwegs. Jedes Wochenende weg von Ehefrau Claudia und Tochter Marie, hinein in den Fokus der Öffentlichkeit.

„Man ist als Schiedsrichter Teil eines riesigen Mediengeschäfts“, sagt Voss. Das musste er spätestens erkennen, nachdem er im Oktober 2006 beim Pokalspiel der Stuttgarter Kickers gegen Hertha BSC k. o. ging, weil ein Zuschauer ihm einen Bierbecher an den Nacken geworfen hatte. Bundesweit wurden in Zeitungen die Fotos abgedruckt, wie Voss auf dem Bauch liegt oder etwas später sichtlich verwirrt auf dem Rasen sitzt. Das Spiel wurde abgebrochen. „Manchmal“, sagt er, „werde ich von Kollegen noch damit aufgezogen. Aber jeder hat seine eigene verrückte Geschichte.“ Voss hat diese wohl schlimmste Anekdote seiner Laufbahn längst abgehakt. Doch das Leben als Schiedsrichter bringt auch Nachteile mit sich, die für immer bleiben. Ein Fußballspiel, ob Bundesliga oder Dorfkick, kann sich Voss nicht mehr entspannt aus der Perspektive eines Fans ansehen. „Man kennt ja inzwischen jeden einzelnen, der da pfeift und winkt, und dann leidet man mit.“

Strenge Kontrollen vor dem Handshake mit dem König Saudi Arabiens

Zum Mitleiden gibt es leider allzu oft einen Grund, da braucht es noch nicht mal eine krasse Fehlentscheidung. Das erfuhr auch Voss selbst erst vor Kurzem wieder. Im Dezember hob er nach einem Treffer des 1. FC Köln im Spiel gegen Mainz 05 die Fahne. Beim Pay-TV-Sender Sky nannte man seine Abseitsentscheidung skeptisch „zumindest diskutabel“, an anderer Stelle hieß es anerkennend: „Mann, hat der ein Auge!“ Fakt ist: Selbst im Standbild und mit virtueller Abseitslinie ist es schlicht nicht zu erkennen, ob der Torschütze einen Zentimeter im Abseits oder mit dem Verteidiger auf gleicher Höhe stand. Zentimeterunterschiede bei gegensätzlichen Bewegungen sind für das menschliche Auge nicht erfassbar, das ist wissenschaftlich längst erwiesen. Trainer, Spieler und Reporter hält das nicht davon ab, immer wieder mit Unparteiischen hart ins Gericht zu gehen. „Ich kenne junge Kollegen, die haben nach dem Spiel in der Kabine geweint“, sagt Voss. „Mit der Zeit wächst man da irgendwie rein und lernt, das zu akzeptieren.“ Klar, wenn man einen Fehler gemacht habe, nage das schon an einem. „Aber nach 24 Stunden ist das vorbei.“

In der Erinnerung an seine Schiedsrichterzeit werden bei Voss dann auch die positiven Momente überwiegen. Ein halbes Jahr nach dem Becherwurf war er als Linienrichter Teil des DFB-Pokal-Endspiels in Berlin zwischen dem 1. FC Nürnberg und dem VfB Stuttgart. 2008 hob er die Fahne im Wembley-Stadion beim Länderspiel England gegen Schweiz. „Die beste Story überhaupt“ aber erlebte er in der Hauptstadt Saudi Arabiens, in Riad, wo die Uhren ein bisschen anders ticken. Zum Pokalfinale erschien der König erst in der Halbzeitpause. Kurzum liefen Schiedsrichter und Mannschaften ein zweites Mal in Reih und Glied in das Stadion ein, die Nationalhymne wurde nochmals abgespielt. Bevor Voss nach der Partie dem König die Hand schütteln durfte, musste er seine Uhr und die Fahne ablegen und wie am Flughafen durch einen Detektor laufen.

Voss kam durch die Schiedsrichterei nach Asien und Afrika, war bei Stadtderbys in Prag und Baku im Einsatz und im lybischen Tripolis, „Orte, wo man sonst niemals hinkommen würde“. Und: „Dort wird den Schiedsrichtern wesentlich mehr Anerkennung entgegengebracht, als hierzulande.“

Lob für eine gute Leistung ist Voss schon fast unangenehm

Gelobt zu werden für eine gute Leistung, das erwarte er gar nicht, sagt Voss. Es war ihm sogar regelrecht unangenehm, als sich im vergangenen Jahr nach dem denkwürdigen schleswig-holsteinischen Landespokalfinale zwischen Holstein Kiel und Weiche Flensburg (14:13 nach Elfmeterschießen) beide Vereinspräsidenten und zahlreiche Spieler beider Teams bei ihm bedankten. „Ich bin diesbezüglich eher schüchtern.“ Ihm würde schon reichen, wenn sich wieder eine Kultur des Respekts gegenüber Unparteiischen durchsetzte. Das ist sein Wunsch für die Zukunft, für seine Kollegen.

Und worauf freut sich Kai Voss am meisten in seinem neuen Lebensabschnitt, wenn er am Wochenende nicht mehr quer durch die Republik reist? Da muss Schleswig-Holsteins bester Schiedsrichter, der bald kein aktiver Schiedsrichter mehr ist, nicht lange nachdenken: „Darauf, mit meiner Tochter auf den Spielplatz zu gehen.“