Autor Ronald Reng liest Dienstag in Ahrensburg. Im Interview spricht er über Plötzlichkeit im Fußball, Betrug in der jungen Bundesliga und seinen verstorbenen Freund Robert Enke

Ahrensburg. Ronald Reng, einst Sportjournalist und inzwischen Autor, veröffentlichte 2002 sein erstes Buch. 2010 sorgte er mit der Biographie über den ehemaligen deutschen Nationaltorwart Robert Enke, der sich im Jahr zuvor das Leben genommen hatte, für Aufsehen. Für sein Buch „Spieltage: Die andere Geschichte der Bundesliga“, in dem er anhand des ehemaligen Spielers und Trainers Heinz Höher auf 50 Jahre Bundesliga zurückblickt, erhielt der 43-Jährige den NDR-Kultur-Sachbuchpreis 2013.

Hamburger Abendblatt:

Herr Reng, was hat Fußball eigentlich mit Kultur zu tun?

Ronald Reng:

Es muss nicht zwangsläufig etwas miteinander zu tun haben. Es ist aber auch nicht mehr so, dass sich Fußball und Kultur als konträre Pole des Lebens gegenüber stehen. Als junger Reporter wurde ich früher vom Trainer des TSV 1860 München, Werner Lorant, oft als „Romanschreiber“ bezeichnet. Das war offenbar das schlimmste Schimpfwort für ihn. Er fand meine Sätze in der Zeitung zu lang. Heute dagegen outen sich Nationalspieler wie Per Mertesacker gelassen als Buchleser, und Lyriker wie Albert Ostermaier verfassen Oden an Oliver Kahn. Was teilweise auch anstrengend ist: dass Fußball heute überall ist, sogar in der Kultur.

In Ihrem aktuellen Buch erzählen Sie „die andere Geschichte der Bundesliga“ anhand von Heinz Höher. Wie ist es dazu gekommen?

Reng:

Ich habe Heinz Höher auf sehr kuriose Weise kennengelernt. Er meldete sich am Telefon mit „Höher aus Nürnberg“, das sagte mir erst mal nichts. Als er später auch seinen Vornamen nannte, wurde mir klar: Das ist der Mann aus meiner Panini-Bild-Sammlung, Trainer des VfL Bochums in den Siebzigern. Ich wohnte damals in Barcelona, er buchte sofort einen Flug.

Was wollte Herr Höher von Ihnen?

Reng:

Er hatte meine Enke-Biographie gelesen und dachte, ich könne ihm helfen. Er vermutete, dass der von ihm betreute Fußballspieler Juri Judt Depressionen habe. Später stellte sich heraus, dass das nicht der Fall war, Judt hatte zu dem Zeitpunkt einfach keine Lust auf Fußball. Jedenfalls befürchtete Höher damals wohl, sein Anliegen sei nicht groß genug. Deswegen hat er mir dazu gleich noch seine ganze Lebensgeschichte erzählt. Wie er den Aufstieg der Bundesliga zur Wirtschaftsmacht miterlebt hatte. Ursprünglich hatte ich abgelehnt, ein Buch über das 50-jährige Bestehen der Bundesliga zu schreiben, weil mir das langweilig erschien. Doch dann hörte ich Höhers Geschichte und wusste: An seinem Leben entlang muss ich über die Bundesliga erzählen.

Hatten Sie Zweifel, ob das funktionieren würde?

Reng:

Ich war schon recht lange angespannt. Es erschien fraglich, ob das bezüglich der letzten Bundesligajahre, in denen Herr Höher nicht mehr so nah dran war, noch funktionieren würde. Doch beim Schreiben habe ich gemerkt, dass eben das unbedingt zum Bundesliga-Leben dazugehört: Fast jeder erfolgreiche Trainer muss irgendwann damit fertig werden, dass seine Zeit abgelaufen ist. Fußballprofis wie Thomas Hitzlsperger und Moritz Volz haben mir gesagt, dass diese letzten Kapitel der stärkste Teil des Buches sind.

Hatten Sie das Gefühl, dass Höher ein glücklicher Mensch ist?

Reng:

Das ist schwierig zu sagen, weil er oft in seiner eigenen Welt lebt. Ich denke, er würde sich selbst als glücklich bezeichnen, auch wenn das oft nicht mit der Außensicht korrespondiert, weil er viel zu verkraften hatte, wie den Verlust seines Sohnes, den Tod seiner Frau im letzten Jahr und seine Alkohol- und Spielsucht. Er hat seine eigenen Mittel, das Unglück von sich fernzuhalten. Zum Beispiel hat er das erste Weihnachten ohne seine Frau einfach ignoriert.

Die Zusammenarbeit mit einem Menschen, der in seiner eigenen Welt lebt, muss kompliziert sein.

Reng:

Es war sehr spannend. Man weiß bei ihm nie, was kommt. Aber er hat eine Hochachtung vor Büchern und war sehr enthusiastisch dabei. Ich habe ihm jedes Kapitel zum Lesen gegeben und seine einzige Anmerkung war oft: „Herr Reng, das können Sie so nicht stehen lassen, da komme ich doch viel zu gut weg!“

Diese Sicht ist überraschend. Er kommt ja wahrlich nicht immer gut weg.

Reng:

Ja, aber er hatte offenbar von sich selbst ein sehr schlechtes Bild im Kopf.

Hat sich das Buch beim Schreiben eigentlich wie ein Sachbuch angefühlt?

Reng:

Ja, definitiv. Ich habe von Fakten und Rechercheergebnissen gelebt. Meine eigene Fantasie war nicht gefragt. Viele verbinden mit einem Sachbuch, dass es trocken und sperrig ist. Ich finde, ein Sachbuch muss sich mindestens so packend lesen wie ein Roman. Ich habe versucht, möglichst viele Informationen beiläufig unterzubringen. Das Buch soll vergnüglich sein, packend, spannend.

In einem der ersten Kapitel erwähnen Sie das damalige Männerbild, frei nach Hemingway: Ein richtiger Mann ist, der an der Bar richtig was verträgt und eisern seinen Weg geht. Entsprach Höher dem schon als junger Spieler?

Reng:

Auf jeden Fall. In dem Zusammenhang war es für mich eine sehr interessante Erkenntnis, wie man durch seine Zeit geprägt wird. In den 50er- und 60er-Jahren gehörte es bei den Fußballern einfach dazu, dass man nach dem Spiel ordentlich bechert und viel verträgt.

Jahrzehnte später schien sich Höher zu fragen, warum dieses Männerbild nicht mehr gültig ist.

Reng:

In den 80er-Jahren begann der Wandel. Damals schlief Branko Zebec als HSV-Trainer während eines Spiels gegen Borussia Dortmund betrunken auf der Bank ein. Es ließ sich von da an nicht mehr verbergen, dass der Alkohol bei vielen Fußball-Trainern ein großes Problem war. Und Heinz Höher gehörte dazu.

Das wurde ihm auch bei seiner letzten Trainerstation 1996 beim VfB Lübeck zum Verhängnis.

Reng:

Er hat das auf sehr tragische Weise versucht zu bekämpfen, mit Alkoholzüglern und kaltem Entzug. Daraufhin ist er gleich beim ersten Training umgefallen. Dieser Vorfall war aber für ihn fast eine Erleichterung, weil er danach relativ offen mit seinem Alkoholkonsum umgegangen ist. Relativ, weil er auch da noch behauptet hat, er hätte es unter Kontrolle. Er hat 30, 40 Jahre gebraucht, um sich einzugestehen, dass er Alkoholiker ist.

Schon in den Kapiteln über die 60er-Jahre geht es fast durchgehend auch um Geld. Spielergehälter, Schwarzgeld, verkaufte Spiele, bis hin zum großen Skandal 1971. War die Bundesliga, so wie man es ihr heute oft nachsagt, schon in ihrer Anfangszeit durch das Geld versaut?

Reng:

Es herrschte offensichtlich von Anfang an ein ganz eigentümliches Unrechtsbewusstsein. Die Spieler waren daran gewohnt, ständig mit Schwarzgeld bezahlt zu werden und jeden Betrug stillschweigend zu behandeln.

Ist es heute noch schlimmer?

Reng:

Nein, da sind die hohen Gehälter eine guter Schutz. Es haben viel mehr Leute Interesse daran, dass alles sauber abläuft, der Fokus ist größer. Das neue, große Phänomen und Problem sind nun die Wetten. Wenn sich die Manipulationen durchsetzen, ist das der Tod des Fußballs. Denn das Wichtigste ist ja das Nicht-Wissen, wie ein Spiel ausgeht.

Im Buch steht auch: „Im Fußball ist alles Plötzlichkeit.“

Reng:

Im Fußball zählt der Moment. Für Zuschauer ist das das Wichtigste, das Innerste, die Essenz. Eine Mannschaft kann völlig überlegen sein aber durch einen irrsinnigen Moment trotzdem verlieren. Und an diesem einen Moment hängen sehr viele Schicksale. In rasender Geschwindigkeit ist jemand der Held und im nächsten Moment derjenige, der gar nichts kann.

Anderes Thema: Was haben Sie am 10. November 2009 gemacht?

Reng:

Morgens habe ich mit Robert Enke telefoniert. Ich habe mich auf ein WM-Relegationsspiel zwischen Portugal und Bosnien vorbereitet, da wollte ich beruflich hinfahren und hatte einige Fragen an Robert, weil er mal in Lissabon gespielt hat. Abends habe ich zuhause Tortellini gekocht, das weiß ich noch. Aber nicht, ob ich sie auch gegessen habe. Es kam dann der Anruf, dass Robert tot ist.

Was hat sich seit Enkes Selbstmord im Fußball geändert?

Reng:

Spielern, die unter Depressionen leiden und das auch erkennen, wird nun deutlich besser geholfen. Es wird – wenn auch in einer noch oberflächlichen Weise – mehr auf die Psyche geguckt. Es setzt sich langsam das Bewusstsein durch, dass Depressionen keine Schwäche sind, sondern eine Krankheit.

Über die Zeit, in der Sie Enkes Biographie geschrieben haben, haben Sie mal gesagt, Sie hätten zehn Monate mit einem Toten gelebt. Wie ging es Ihnen in dieser Zeit?

Reng:

Dementsprechend. Es war sicher nicht meine glücklichste Zeit. Es lief gerade die WM in Südafrika, und ich habe kaum ein Spiel gesehen. Im Nachhinein bin ich für die Zeit aber auch sehr dankbar. Ich hatte so offene Gespräche mit allen aus Roberts Umfeld wie noch nie als Journalist und konnte so sehr gut lernen und verstehen, was mit Robert geschehen war.

Hatten Sie beim Schreiben der Biographie Zweifel?

Reng:

Ich hatte Zweifel, ob ich das Buch überhaupt schreiben soll. Ich hatte Angst, gesagt zu bekommen, dass man ein Buch so nicht schreiben darf – und dass es so rüberkommt, als wolle ich von Roberts Tod profitieren.

Was hat Sie überzeugt?

Reng:

Mir wurde im Laufe der Monate klar, dass dieses Buch auch einen Auftrag hat: Zu zeigen, was es bedeutet, unter Depressionen zu leiden. Ich habe gehofft, anschaulicher als ein Ratgeberbuch aufzuzeigen, was die Depression mit einem Menschen macht.

Das Buch hat in vielen Ländern Preise gewonnen, in Deutschland aber keinen einzigen. Woran liegt das?

Reng:

So etwas ist immer sehr abhängig von der Jury und deren Eigeninteresse. Aber Preise sind nicht der alleinige Maßstab, auch wenn mir bei diesem Buch die öffentliche Meinung sehr wichtig war. Ich habe viele Rückmeldungen von Psychiatern und auch von Depressiven erhalten, die sich für das Buch bedankt haben.

Viele kritisierten Enke dafür, dass er durch die Art seines Selbstmordes – er warf sich vor einen Zug – andere Menschen wie den Zugführer hineingezogen hat.

Reng:

Das ist dummes und uninformiertes Geschwätz. Denn dabei gehen die Leute davon aus, dass er mit klarem Verstand handelte, aber das tat er eben nicht – sonst hätte er sich ja nicht umgebracht. Es ist nachgewiesen, dass das Gehirn von Depressiven eingeschränkt ist. Die Empathie ist massiv gestört. Deswegen ist es nicht nur falsch sondern nahezu unanständig, seinen Selbstmord mit Maßen des normalen Verstands zu messen.