Hanna Kiehr leitet seit 50 Jahren die Gymnastikgruppe des SV Großhansdorf. Früher erledigte sie den Schriftverkehr für den FC St. Pauli

Großhansdorf. Die kleine Tasche mit den Utensilien für eine Übernachtung steht bereits fertig gepackt im Flur, die Autoschlüssel liegen griffbereit daneben - wie jeden Dienstag wird sich Hanna Kiehr am späten Vormittag mit ihrem Auto auf die 124 Kilometer lange Strecke von Burg auf Fehmarn nach Großhansdorf begeben.

Den Termin um 19 Uhr hat sie das ganze Jahr über fest eingeplant - im Sommer wie auch im Winter. "Ist doch auch bei Schnee kein Problem, die Autobahn ist immer gut geräumt", sagt die 87 Jahre alte Rentnerin. Eine kleine Riege munterer Seniorinnen wartet bereits in der Sporthalle der Grundschule Wöhrendamm auf die rüstige Dame, die in diesem Jahr ein besonderes Jubiläum feiert: Seit nunmehr 50 Jahren leitet Kiehr mit ungebrochener Leidenschaft die Gymnastikgruppe des SV Großhansdorf.

Der Sport hat Kiehr immer sehr viel Lebenskraft gegeben, aber ihr blieben auch die Schattenseiten des Lebens nicht erspart. Die Familie der in Cranz (heute: Selenogradsk) geborenen Ostpreußin hielt gegen Ende des zweiten Weltkrieges so lange wie möglich an ihrem Heimatort fest. "Aber als 1944 das Getöse der Stalinorgeln immer lauter wurde, wussten wir, dass die Russen nur noch wenige Kilometer von uns entfernt standen. Da hieß es: so schnell wie möglich weg von hier", erzählt die 87-Jährige. Ihre paar Habseligkeiten auf einem Rodelschlitten fest geschnürt, floh sie mit ihren Eltern entlang der Bahnschienen zu Fuß in Richtung Westen. Kiehr: "Für den Fall, dass wir getrennt werden, gab mein Vater mir zwei Adressen: eine in Hamburg und eine in Berlin."

Über Neukuhren, Danzig, Zoppot und Rügen führte Hanna Kiehrs Weg an die Mecklenburgische Seenplatte nach Altentrebtow, wo sie, mittlerweile von den Eltern getrennt, für ein halbes Jahr Unterschlupf auf einem Heuboden fand. "Als nach Monaten der Postverkehr wieder aufgenommen wurde, schrieb ich einen Brief an die Berliner Adresse. Es dauerte einige Wochen, dann erhielt ich die Information, dass mein Vater Hermann in Berlin gewesen sei, es ihn mittlerweile aber nach Großhansdorf verschlagen habe", erzählt Kiehr. So schnell wie möglich sei sie dann mit der Bahn in Richtung Stormarn aufgebrochen, allerdings ohne die vorgeschriebenen Papiere.

"Ich musste ja zusehen, dass ich irgendwie über die Grenze komme, was damals zum Glück noch nicht so schwierig war." Das Wiedersehen mit ihrem Vater bleibt für sie unvergesslich: "Mit Worten kann man es nicht beschreiben, es war eine überwältigende, lange, stille Umarmung", so die 87-Jährige. Ihre Mutter Hertha fand einige Monate später ebenfalls den Weg nach Großhansdorf. "Man könnte von einer perfekten Familienzusammenführung sprechen, wenn nicht mein Bruder Herbert im Russenfeldzug gefallen wäre."

1947 legte die Familie Kiehr den Grundstein für ihre geschäftliche Zukunft: Hermann Kiehr verkaufte Kochtöpfe aus einem angemieteten Zimmer des ehemaligen Gasthofs Vier Linden am Wöhrendamm. Als das Geschäft mehr und mehr ins Laufen geriet, mietete er sich ein Ladengeschäft an der Hoisdorfer Landstraße.

In der Zwischenzeit schlug sich Hanna Kiehr mit verschiedenen Jobs durch, arbeitete unter anderem für die Hamburger Firma Koch und Scharff, Häute & Felle. "Wilhelm Koch war seinerzeit Vorsitzender des Fußballvereins FC St. Pauli, desegen lief die gesamte Vereinskorrespondenz über meinen Schreibtisch", erinnert sich Kiehr, die in den Folgejahren 1953 bis 1956 als Au-pair-Mädchen nach Paris ging. Zurück aus Frankreich stieg sie in das elterliche Eisenwarengeschäft ein, mittlerweile am Wöhrendamm im ehemaligen Gasthof Zum Landhaus. Sie verkaufte fortan Schrauben, Muttern, Nägel und all die kleinen Dinge, die ein Heimwerker benötigt - und das Wort Service wurde noch großgeschrieben. "Wenn ich durch Großhansdorf gehe, treffe ich immer noch alte Kunden, die bedauern, dass wir nicht mehr da sind", so Kiehr.

Ihr Leben lang hat sie immer viel Sport betrieben, mehrfach Medaillen bei Leichtathletik-Welt- und Europameisterschaften der Seniorinnen gewonnen. Vor vier Jahren riet ihr Kardiologe wegen eines angeborenen Herzfehlers zu einer dringend notwendigen Operation. "Sechs Monate musste ich meine Aktivitäten herunterschrauben", sagt die Rentnerin. "Aber in meiner Familie haben alle etwas mit der Pumpe."

Seit 1975 hat Kiehr eine Ferienwohnung auf Fehmarn, denn sie liebt die Nähe zum Meer. 1999 ließ sie sich ganz auf der Insel nieder. Die immer wieder gestellte Frage, wie lange sie noch weitermachen möchte, beantwortet die 87-Jährige auf ihre ganz eigene Art und Weise: "Der Mensch denkt - und Gott lenkt."