Von Harry Grunwald

Reinbek/Lübeck
. Die Flucht vor Armut und Hunger endete für Elhadj M. vor dem Landgericht in Lübeck. Seit dem 7. November 2014 sitzt der 29-jährige Afrikaner in Lübeck in Untersuchungshaft. Vor der kirchlichen Asylbewerber-Unterkunft am Reinbeker Täbyplatz soll er einen Landsmann heimtückisch niedergestochen haben (wir berichteten). Die beiden stammen nach eigenen Angaben aus Mali. Das Opfer überlebte nur knapp, im Krankenhaus St. Adolf-Stift musste der 31-jährige Papa K. notoperiert werden. Gestern begann vor dem Landgericht Lübeck der Prozess wegen versuchten Mordes gegen Elhadj M.

Sechs Stunden lang versuchte das Gericht, den Ablauf des blutigen Streits aufzuklären, doch die Befragung des Angeklagten, des Opfers und weiterer Zeugen brachte nur magere Ergebnisse. Offenbar war es während des Deutschunterrichts für die Asylbewerber aus nichtigem Anlass zu einer Auseinandersetzung gekommen, der Angeklagte war zunächst gar nicht daran beteiligt. Draußen ging der Streit dann weiter, am Ende lag Papa K. mit lebensgefährlichen Stichverletzungen am Boden. "Ich habe ihm viermal ein Messer in den Rücken gerammt", gab der Angeklagte gestern zu. "Ich war völlig außer mir vor Wut, ich weiß selbst nicht mehr, warum. Die Tat tut mir unendlich leid, Papa hat mir nie etwas getan. Ich möchte mich ausdrücklich bei ihm entschuldigen." Papa K. nahm diese Entschuldigung nur unter Vorbehalt an: "Jeder muss selbst wissen, wie weit er bei einem Streit gehen kann", sagte er und schilderte selbst den Ablauf der Tat.

Er habe während des Deutschunterrichts einen Landsmann ermahnt. "Mohammed hatte sich gegenüber der Deutschlehrerin respektlos benommen. Elhadj mischte sich ein, wir haben die Sache dann aber noch während des Unterrichts beigelegt." Nach der Deutschstunde habe er draußen vor der Unterkunft Laub geharkt. "Plötzlich spürte ich einen Stich in den Rücken. Ich drehte mich um und sah Elhadj mit einem blutigen Messer in der Hand." Er habe sich mit der Harke gegen den Angreifer gewehrt und ihn auch zu Fall gebracht. "Aber er stach noch dreimal auf mich ein, danach verlor ich das Bewusstsein". Noch heute, ein halbes Jahr nach dem Überfall, leidet er an den Folgen der Tat. Er hat Schmerzen im Brust- und Schulterbereich.

Der Angeklagte gab mit seinen Aussagen schließlich doch einige Hinweise auf ein mögliches Tatmotiv. Er sei unter einfachsten Verhältnissen aufgewachsen. "Mein Vater war ein armer Bauer. Als er starb, hatten wir nicht mehr genug zu essen." Er habe nur eine Koranschule besucht und keinen Abschluss erreicht. Schon damals habe er unter starken Kopfschmerzen, häufigem Gedächtnisverlust und Wutanfällen aus kleinstem Anlass gelitten. Die materielle Not in der Heimat habe ihn schließlich in die Flucht getrieben, über Teneriffa und das spanische Festland sei er nach Deutschland gekommen. Ein Asylantrag wurde vom Land Bremen abgelehnt. Die Behörden halten es für möglich, dass er nicht aus Mali, sondern aus dem sicheren Senegal kommt.

Die ehrenamtlichen Helfer in der Asylbewerber-Unterkunft hatten fassungslos und bestürzt auf die Messerstecherei reagiert, einige von ihnen saßen gestern am ersten Prozesstag im Zuschauerraum. "Im Nachhinein ist die Tat für uns nicht vollkommen unerklärlich", sagte Anke Heidorn in einer Verhandlungspause. Sie gibt den Asylbewerbern gemeinsam mit Katrin Zessin an vier Tagen in der Woche Deutschunterricht und sieht dabei, unter welch schwierigen Verhältnissen die zehn jungen Männer leben. "Sie dürfen nicht arbeiten und haben kaum Kontakte nach draußen. Sie spüren, dass sie hier von manchen Menschen abgelehnt werden. Das alles erzeugt natürlich Spannungen und Aggressionen." Der Prozess wird fortgesetzt. Angesetzt sind vier weitere Tage.

"Die Tat tut mir unendlich leid." Elhadj M., Angeklagter