Von Susanne Holz

Reinbek
. Genau 70 Jahre liegt das Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. Dass der Schrecken des vergangenen Jahrhunderts selbst bei denen noch nachwirkt, die in Frieden aufgewachsen sind, ahnte lange niemand. "Was hast Du mit dem Krieg zu tun? Dir geht es doch gut!", hörten jene von Müttern und Vätern, die spürten, dass es einen Zusammenhang zwischen den oft traumatischen Erfahrungen ihrer Eltern und ihrem eigenen Leben geben könnte. Mittlerweile hat das diffuse Gefühl einen Namen: Sie alle sind "Kriegsenkel". Gemeint sind die Töchter und Söhne jener Menschen, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder oder Jugendliche miterlebt haben.

"Ich selbst gehöre zur Generation der Kriegsenkel", sagt Michael Schneider (54). Der Reinbeker ist gemeinsam mit Joachim Süß Herausgeber des Buches "Nebelkinder", das heute im Schloss vorgestellt wird. Darin kommt nicht nur Schneider selbst zu Wort, sondern Kinder und Enkel von NS-Tätern, Flüchtlingen und Vertriebenen, Frontsoldaten der deutschen Wehrmacht und Überlebende des Bombenkriegs. Sie alle eint, dass sie sich mit ihrer Familie, deren Geschichte auseinandergesetzt und festgestellt haben: Die Vergangenheit lebt mit - noch Generationen später und oft unbewusst.

Als Michael Schneider 2007 als Leiter der Akademie Sandkrug in der Nähe von Lauenburg erstmals mit dem Begriff "Kriegskinder" (Jahrgang 1930 bis 1945) in Berührung kam, ahnte er selbst noch nicht, welche Dynamik die Auseinandersetzung mit dem Thema bekommen würde. Sabine Bode - heute Bestsellerautorin - war es, die den Fokus erstmals auf diese Generation richtete, ihr Gesicht und Stimme gab.

"Schnell merkten wir jedoch, dass zu den Vorträgen, Lesungen und Seminaren über Bodes Buch ,Kriegskinder' auch viele jüngere Leute kamen", so Schneider. Während die eigentlich betroffene Zielgruppe oft lieber nicht an dem einst Erlebten rührte, Erinnerungen, Ängste und Trauer wie in einem Kokon eingeschlossen hatte, interessierten sich ihre Nachkommen brennend dafür. Und zwar nicht, um den Eltern Vorwürfe zu machen oder ihnen eine Mitschuld an den Gräueltaten zu geben. Sondern vielmehr, um zu verstehen und die Frage zu beantworten: Warum ist meine Familie so wie sie ist?

Viele tauchten plötzlich in die eigene Familiengeschichte ab. Sie trafen sich in Runden von Gleichgesinnten, öffneten die Herzen, erzählten sich Dinge, die sie selbst mit Mutter, Vater, Schwestern oder Brüdern niemals zuvor besprochen hatten. Ein Wendepunkt im Leben vieler. Schneider selbst ist Mitbegründer des Vereins Kriegsenkel e.V..

"Bis dahin hatten wir uns keiner Generation zugehörig gefühlt. Wir sind keine Kriegskinder, keine richtigen 68er, noch nicht die Generation Golf und erst recht keine modernen Digital natives", hat Schneider beobachtet. Plötzlich sahen er und die anderen jedoch, was sie verband. Sie sind die Kinder von Kriegskindern. Von Eltern also, die in jungen Jahren Traumatisches erlebt und unbewusst ihre Erfahrungen und Ängste an die Nachkommen weitergegeben hatten.

Eine Frau ahnt beispielsweise plötzlich, warum sie selbst "ihr Leben lang auf dem Sprung" ist - beruflich und privat. Ihre Mutter musste im Krieg fliehen, war immer auf der Hut. Die Botschaft, die sie unbewusst an die Tochter weitergegeben hatte: "Ankommen ist gefährlich." "Ein Mann absolviert eine Fortbildung und Ausbildung nach der anderen, obwohl ihn das beruflich schon lange nicht mehr weiterbringt", erzählt Michael Schneider. Im Gespräch mit anderen "Kriegsenkeln" stellte sich heraus, dass die Mutter ihrem Sohn eingeschärft hatte: "Bildung ist das Einzige, was man dir nicht nehmen kann." Sie selbst hatte bei der Flucht aus Schlesien alles verloren.

Auch Michael Schneider begab sich auf Spurensuche und versteht seine eigene Familie nun besser als noch vor einigen Jahren. Seine Recherche führte ihn sogar ins polnische Lodz. Sein Urgroßvater hatte dort damals als Unternehmer Öle und Fette in ein Ghetto geliefert, in dem jüdische Männer und Frauen als Zwangsarbeiter Leder verarbeiten mussten. "Er war Aristokrat und hatte eigentlich hohe moralische Anforderungen an sich selbst. Trotzdem hat er das System unterstützt", sagt Schneider. Mit seinem Onkel war ein Gespräch darüber kaum möglich. "Er hat etwas erzählt und die Interpretation gleich mitgeliefert", so Schneider. Wie viele andere stellte er fest: In Archiven und Geschichtsbüchern erfährt man mehr, als von den eigenen Verwandten. Der Titel des Buches "Nebelkinder" kommt nicht von ungefähr. Viele Kriegsenkel fühlen sich, als stocherten sie tatsächlich im Nebel. Da ist etwas in der Familiengeschichte - man spürt es, sieht es aber nicht.

Lesung des Buches "Nebelkinder" am heutigen Montag, 4. Mai, im Reinbeker Schloss, Schloßstraße 5, Eintritt: 5 Euro, Beginn: 19 Uhr