Buslinie 619 nur noch bis Glinde, Am Sportplatz: Gisela Neussert erzählt aus 20 Jahren auf dieser Linie

Dass sich auch Profis mal verfahren können, ist bekannt. Aber weshalb hat eine Reinbeker Busfahrerin immer eine Landkarte von Afrika dabei? Und braucht sie die Karte nun vielleicht nicht mehr, jetzt da der Nachtbus 619 nur noch bis Glinde, Am Sportplatz und von Glinde/Markt bis U-Bahnstation Billstedt fährt?

Gisela Neussert lacht. Überhaupt lacht die 60-jährige Allrounderin gern und viel, auch das wissen ihre Fahrgäste. "Das ist teilweise wirklich wie in einer Familie. Man kennt sich. Die Gespräche gehen über Small Talk hinaus." Und die Karte? "Ganz einfach. Ich interessiere mich für meine Gäste. Und wenn ein afrikanischer Migrant nicht so gut deutsch spricht, kann er mir auf der Karte zeigen, aus welchem Land er kommt." Die Weihnachtswünsche an ihre Fahrgäste ließ sie von ihren internationalen Mitfahrern in 16 Sprachen übersetzen und aushängen.

Wohl nicht ohne Grund studiert die Kraftfahrerin mit dem großen Herzen nebenberuflich Soziologie. "Ich mache gerade mein Diplom, bin fast fertig." Reicht ihr der Schichtdienst bei den Verkehrsbetrieben nicht? Wie ist das zu schaffen? "Ich möchte dazulernen, mich weiterbilden, über den Tellerrand schauen. Das ist mir ein tiefes Bedürfnis." Am liebsten würde sie mit Strafgefangenen arbeiten.

Fast hätte es in den USA schon mit einem Job in einer berüchtigten Strafanstalt geklappt. "Ich machte damals ein Praktikum, war mit einer Jazzband unterwegs." Doch: "Es ist kaum zu glauben, aber eine Einzimmerwohnung kostet im Raum New York monatlich bis zu 5000 Dollar Miete. Mehrere Parteien teilen sich eine solche Wohnung, leben quasi in Schichten darin." Aufgegeben hat sie ihren Traum nicht. "Wenn ich mein Diplom erst in der Tasche habe, versuche ich es wieder. Allerdings brauche ich Glück, da ich ja schon recht alt bin."

Davon, dass Gisela Neussert "alt" ist, ist im Gespräch wenig zu spüren. Und auch nicht im Bus: "Gerade auch mit Jugendlichen unterhalte ich mich gern. Manchmal wird sogar gesungen." Wie bitte? Neussert lacht: "Ich bin ja von Natur aus musikalisch, liebe den traditionellen Jazz. Und Jugendliche singen gern." Denen gibt sie schon mal vor Weihnachten die Empfehlung: "Lasst euch doch Gesangsunterricht schenken. Dann bekommt ihr eure eigene ausgebildete Stimme und müsst andere Sänger nicht immer nur nachmachen." Einmal seien nach dem Hamburger Hafengeburtstag viele Feiernde eingestiegen. Da habe sie dann die Klassiker angestimmt, Hamburger Lieder: "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins. . . und so weiter. Der ganze Bus hat mitgesungen und alle konnten die Texte. Es war so schön."

Doch auch gefährliche Situationen musste die drahtige Frau schon meistern. "Einmal bin ich binnen sechs Wochen drei Mal Opfer einer Straftat geworden." Am meisten hatte sie Angst, "als zwei Jugendliche den Nothammer aus dem Bus stahlen und von draußen die Scheiben eindroschen". Und diese unheimlichen Gestalten, die laut Neonazi-Rap-Musik in ihrem Bus hörten. "Als ich zu ihnen ging und darum bat, die Musik abzustellen, wurde ich massiv bedroht. Sie stechen mich ab und solche Dinge." Als sie die Polizei rief, flüchteten die Täter schließlich. "Doch ich wurde gewarnt, dass die mich verfolgen und wieder in meinen Bus steigen wollen." Sie tauschte mit einem Kollegen die Linie.

Lustige Sachen hat sie mit ihren "Rockern" erlebt. "Ich kenne welche, die haben mit den Rolling Stones in den 60ern an der Elbe gesessen und haben einen Joint geraucht. So etwas erlebt die heutige Jugend leider nicht mehr." Einer ihrer "Rocker" versteckte einmal sein Bier oben in der Jeansjacke. "Im Bus ist ja Alkoholverbot." Dummerweise bückte er sich am Einstieg "und das ganze Bier ist in meine Kasse gelaufen. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Geld waschen musste", sagt Gisela Neussert lachend. Eins tut ihr leid: "Dass die Linie 619 jetzt nur noch verkürzt fährt, finde ich nicht in Ordnung. Was wird aus meinen Fahrgästen?"