Lebendige Geschichte: Der Mann, der die Mauer öffnete, zog im St. Adolf-Stift 300 Zuhörer in seinen Bann

Am Morgen des 10. Novembers 1989 kommt Harald Jäger endlich nach Hause. "Du bist spät dran", stellt seine Frau fest. "Ich habe heute Nacht die Mauer geöffnet", erklärt der DDR-Oberstleutnant. "Veräppeln kann ich mich selber", antwortet sie knapp und geht zur Arbeit. Jäger ruft seine Schwester an. Denn der stellvertretende Chef der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße muss über seine historische Tat reden. "Habt ihr geschossen?", will seine Schwester nach einer langen Gesprächspause wissen. "Nein", antwortet Jäger. "Na, dann ist ja alles gut", erwidert sie und legt auf.

Der Mann, der vor 25 Jahren den Befehl gab, den Schlagbaum zu öffnen und damit das Ende der DDR einläutete, war auf Einladung des Kaufmännischen Direktors des Krankenhauses, Lothar Obst, in die mit 300 Gästen proppevolle Aula der Krankenpflegeschule gekommen. Er, der an jenem denkwürdigen Abend gar nicht vor gehabt hatte, zum Helden zu werden, beeindruckte auch die beiden anderen Podiumsgäste: Michael Pfitzner, der in der "Nacht der Nächte" als 24-jähriger DDR-Wehrdienstleistender in Ostberlin stationiert war, sowie Waltraud Schröder, die als Landesbereitschaftsführerin des Deutschen Roten Kreuzes in der von DDR-Flüchtlingen besetzten Deutschen Botschaft in Prag aushalf.

Weil sich die CSSR bei der DDR über Tausende von Flüchtlingen beschwerte, die dort Zuflucht suchten, arbeitete das DDR-Innenministerium eilig eine Reiseregelung aus. Der Sekretär des Zentralkomitees für Sicherheitsfragen, Egon Krenz, ist nicht so wirklich in der Lage, diese Reiseregelung dem Zentralkomitee zu erläutern. Trotzdem stimmt das Zentralkomitee zu. Nun drückt Krenz dem Ersatz-Pressesprecher Günter Schabowski zwischen Tür und Angel den Entwurf in die Hand: "DDR-Bürgern sind kurzfristig Privatreisen zu bewilligen", heißt es darin. Schabowski erfährt aber nichts von einer Sperrfrist, an die die Regelung gebunden ist. Deshalb versichert er den Journalisten: "Nach meiner Kenntnis tritt diese Regelung sofort in Kraft. Unverzüglich."

Der diensthabende Grenzübergangs-Chef Harald Jäger sitzt zeitgleich vor einem Fernsehgerät in der Kantine. "Mir blieb der Bissen im Hals stecken", sagte er. "Ich dachte nur: 'Was redet der Schabowski denn da für einen geistigen Dünnschiss'?" Ihm sei sofort klar gewesen, dass alle DDR-Bürger nun denken mussten, dass sie mal eben in den Westen reisen könnten. Und tatsächlich. "Nach 30 Minuten standen schon 100 Menschen vorm Schlagbaum", erinnerte sich Jäger im St. Adolf-Stift. "Mit jeder Straßenbahn, die in die Bornholmer Straße einbog, waren es 100 mehr." Bis es schließlich so voll wurde, dass die Bahnen von Menschenmassen blockiert wurden. Jäger telefonierte mehrmals mit seinem Vorgesetzten Oberst Rudi Ziegenhorn. Der gab ihm Tipps wie "Schick alle nach Hause" oder "Hol die Provokateure aus der Menge, lass sie ausreisen, aber nicht wieder einreisen".

Nachdem die westdeutschen "Tagesthemen" das feierten, was faktisch noch gar nicht stattgefunden hatte - die Maueröffnung nämlich - halfen die Ratschläge nicht mehr weiter. Jäger: "Im Gegenteil. Ziegenhorns 'Ventillösung', wie er sie nannte, machte alles nur schlimmer. Nachdem die ersten rüber waren, wollten die anderen auch über die Grenze." Schließlich habe es nur eine Alternative gegeben: Schlagbaum auf oder schießen. "Alle haben mich angestarrt und eine Entscheidung erwartet. Aber keiner, wirklich keiner, hat mir den Rücken gestärkt", bedauerte Jäger noch hörbar enttäuscht. "Schließlich habe ich mich für den Befehl 'Schlagbaum auf!' entschieden." Ihm sei zum Heulen zumute gewesen. Geheult habe dann aber ein zwei Jahre älterer Kollege. "Den musste ich trösten. Da konnte ich meinen Gefühlen keinen freien Lauf lassen", erklärte Jäger dem gefesselten Reinbeker Publikum. "Uns Beamten war schon in diesem Moment klar: Das war's mit der DDR."

Mit der "BRD", wie er sie heute noch nennt, hat sich Jäger lange nicht anfreunden können. "Ich hatte eine glückliche Kindheit in der DDR und wollte diesem Staat etwas zurückgeben. Ich glaubte an das System", bestätigte der damalige Mitarbeiter der Staatssicherheit. Heute aber glaubt der 71-Jährige, dass das bundesrepublikanische System doch mehr Freiheiten bietet als die DDR.