Bildungswissenschaft: Reinbekerin leitet Forschungsprojekt für hochbegabte Kinder an der Uni Hamburg

Kinder brauchen Freiraum, um ihre Fähigkeiten zu entfalten, ist Prof. Marianne Nolte überzeugt. Schon als Grundschullehrerin hatte sie den Erstklässlern diese Chance im Unterricht eingeräumt. Dabei wurde die Reinbekerin immer wieder überrascht, welche Talente so zum Vorschein kamen: In einer Klasse war ein Junge, der nach drei Monaten bereits zweistellige Zahlen im Kopf multiplizieren konnte. Er erkannte von alleine Strukturen, die sich andere nur mühsam aneignen konnten, erinnert sich Nolte.

Der Pädagogin war bewusst, dass sie dieses Talent fördern sollte. Auf der Suche nach Möglichkeiten stieß sie Ende der 1980er-Jahre auf die William-Stern-Gesellschaft und deren Mitbegründer Prof. Dr. Karl Kießwetter. Er förderte Jugendliche ab der siebten Klasse, die in Mathematik besonders begabt sind. Irgendwann fragte er: "Wollen sie nicht etwas für die Grundschüler tun?" So kam die Erziehungswissenschaftlerin an ein Projekt, das sie bis heute fasziniert und das inzwischen an der Uni Hamburg zu ihrem Forschungsschwerpunkt geworden ist. In diesem Sommer besteht es seit 15 Jahren.

Für etwa 13 000 Hamburger Grundschüler gibt es mittlerweile 50 Plätze für Mathematikbegabte und 70 Mathezirkel. Dabei geht es nicht primär um Hochbegabtenförderung. "Ich interessiere mich für Kinder und deren Lernprozesse", sagt die Reinbekerin. Es gehe auch um Nonkonformität, darum, einen Rahmen zu schaffen für ungewöhnliche kreative Denkansätze: "Kinder mit einer besonderen Begabung bekommen häufig den Eindruck, ein Fremdkörper in der Klasse zu sein. Sie brauchen die Bestärkung, sich äußern zu können."

Auch Kinder, die vordergründig keine guten Leistungen zeigen, können plötzlich aufblühen und eine Hochbegabung zeigen, weiß Marianne Nolte. "Du Papa, die interessieren sich hier dafür, was ich denke", habe einmal ein Kind gesagt, das an der Talentsuche für das PriMa-Projekt teilgenommen hat. Kinder kommen mit ihrer Sondersituation in der Normalklasse deutlich besser zurecht, so Noltes Erfahrung, wenn sie Gesprächspartner mit ähnlichen Interessen finden.

"Wir setzen in dem Projekt Aufgaben ein, die teilweise ebenfalls in der Regelklasse eingesetzt werden, sowie Aufgaben, die sich nur für sehr begabte Kinder eignen. Das Unterrichten dieser Aufgaben erfordert hohe mathematische Kompetenzen sowie eine hohe Flexibilität, denn bereits im Grundschulalter entdecken Kinder Zugänge zu den Fragestellungen, die für uns Erwachsene neu sind", beschreibt Nolte, die von ihrem Arbeitszimmer im Oher Einfamilienhaus auch die Lehrerfortbildung organisiert.

Die Kinder kommen freitags zu einer Förderveranstaltung an die Uni. Hier bearbeiten sie Problemstellungen, die altersgemäße Vorkenntnisse voraussetzen, gleichzeitig aber so anspruchsvoll sind, dass sich Kinder mit besonderen Begabungen herausgefordert fühlen.

Denn nicht immer werde eine Begabung entdeckt, manchmal spiele auch der Zufall mit. Sie erinnere sich an ein Mädchen (9), das selten Hausaufgaben gemacht habe und nicht gut lesen konnte. Bei einem Intelligenztest erzielte sie dann überraschend einen IQ von 130. Nach Gesprächen mit ihrer Mutter wurde der Opa mit ins Boot geholt, der sich um die Enkelin kümmerte und mit ihr Hausaufgaben machte. "Mit der besonderen Zuwendung hat sie ihre Schwächen schnell aufgeholt und konnte zeigen, was in ihr steckt", sagt Nolte.

Letztlich ist ihr Engagement ein Plädoyer dafür, alle Kinder mit ihren besonderen Begabungen zu fördern, das müssen nicht immer nur sogenannte Hochbegabungen sein. Auch eine ungewöhnliche, vielleicht auf den ersten Blick abwegige Idee, dürfe im Unterricht nicht unterdrückt werden. Manchmal steckten dahinter richtig gute Überlegungen: "Jeder verdient individuelle Unterstützung", appelliert Nolte.