Kindheitstraum: Eine Nacht in der Buchhandlung -Erdmann macht's möglich

Auf unheimlichen Lesestoff verzichte ich heute Abend lieber, denn zu sehr erschrecke ich jedes Mal, wenn neugierige Gesichter hinter dem Schaufenster auftauchen - Nachtschwärmer, die auf dem Weg nach Hause an der Buchhandlung Erdmann an der Bahnhofstraße vorbeikommen und verwundert stehen bleiben, weil ich barfuß und im Schlafanzug die Bücherregale entlangschlendere. Ich mache heute einen Kindheitstraum wahr und übernachte in einem Buchladen. Bis morgen früh um 9 Uhr habe ich Tausende von Büchern ganz für mich allein.

Ein aufblasbares Bett und Tausende Bücher

Zwischen Reiseführern und spirituellen Lebensratgebern hat Buchhändlerin Ina Skorka ein aufblasbares Bett aufgestellt. Dazu eine Leselampe, Musik, Rotwein, Cola, frische Handtücher im Bad - sie hat an alles gedacht, was man für eine Nacht in ihrem Laden braucht. Eine große Portion Vertrauen gehört für sie dazu. Denn immerhin übergibt sie mir den Schlüssel für ihr Geschäft. Viele ihrer Kunden machen auch vom "Buchgenuss nach Ladenschluss" Gebrauch und verbringen am Abend zwei, drei Stunden allein zwischen den Bücherregalen.

Die Idee für das Übernachtungsangebot kam von den Kunden selbst, sagt Ina Skorka. "Wenn man genau zuhört, stellt man fest: Viele Menschen träumen davon." Die Buchhändlerin macht es möglich - für 50 Euro inklusive Frühstück, Getränken und Lesestoff, der nicht ausgeht.

Ich lasse mich von vielversprechenden Buchtiteln locken - Neuerscheinungen, Klassiker und peinliche Ratgeber, in die ich sonst nie einen Blick werfen würde. Aus der Romanecke schnappe mir einen Stapel Bücher und mache es mir in einer kleinen Sitzecke gemütlich. Zuerst lese ich mich im Debütroman von Schauspielerin Andrea Sawatzki "Ein allzu braves Mädchen" fest. Sie schreibt, wie sie die Tatortkommissarin spielt: kühl und sachlich. In "Die Jakobsleiter" von Maarten 't Hart geht es wärmer und verspielter zu. Die Beschreibung der provenzalischen Sommerlandschaft ist jetzt genau das Richtige. Während hinter mir die Regentropfen am Schaufenster abperlen, lese ich von einem Sommertag mit Rapsfeldern und flimmernder Luft die Geschichte zweier Jungen, die dramatisch enden muss.

Bis zum Morgengrauen durch Regalmeter gelesen

Ich muss mich zwingen, das Buch wieder aus der Hand zu legen, denn schließlich wollen noch viele Regalmeter voller Bücher entdeckt werden. Ich lege "Die Jakobsleiter" auf den Ladentisch. Der Satz "Ich muss erst einmal drüber schlafen", bekommt heute Nacht wirklich Bedeutung.

Die Musik läuft leise und verschluckt Geräusche, die von draußen kommen. Ich lasse mich die Regale entlang treiben. Es ist wunderbar, zwischen Buchdeckeln in verschiedene Welten abzutauchen. In "1913 - der Sommer des Jahrhunderts" entführt mich Florian Illies in die Vergangenheit, beschreibt Anekdoten über Künstler, Autoren und künftige Diktatoren, die die Welt veränderten. Dann blättere ich in einem Band über XXL-Containerschiffe und suche bei Eckart von Hirschhausen nach einer Antwort auf die Frage "Wohin geht die Liebe, wenn sie durch den Magen durch ist?" Ich stelle das Rotweinglas im Regal mit den Biografien ab und ziehe heraus, was mir interessant erscheint: Der Zoologe Keith Richardson erzählt vom Leben als "Löwenflüsterer" und Felix Baumgartner beschreibt in seiner Biografie seinen verrückten Sprung aus dem All.

Als mich im Morgengrauen die Müdigkeit übermannt, lasse ich mich auf das Bett in der Reiseabteilung fallen. In eine Decke eingekuschelt, brauche ich nur die Arme ausstrecken, um mir die Reiseführer ins Bett zu holen. Ich träume von Bali, Madeira und Urlaub auf der dänischen Insel Rømø.

Beim Frühstückskaffee fällt mir ein Wälzer in die Hände, für den die Zeit nie gereicht hatte: "1000 places to see before you die". Ob man diese 1000 Orte alle gesehen haben muss, bevor man stirbt, ist Geschmackssache. Aber eine Nachtexkursion durch eine Buchhandlung sollte man einmal im Leben auf jeden Fall gemacht haben.