Reinbek. Es gab Zeiten, da hat Hans-Jürgen Braasch binnen sechs Monaten den kompletten Obstlervorrat eines gut sortieren Getränkemarktes ausgetrunken.

Im September 2003 stapelten sich in seiner Küche 170 Flaschen Hochprozentiges. Seit April des Jahres hatte er pro Tag ein bis anderthalb Flaschen leer gemacht - bis er nicht mehr konnte. "Innerhalb kürzester Zeit habe ich 40 Kilo abgenommen, wog nur noch 55 Kilo. Ich war am Ende", sagt Braasch heute - der erste Tag seines Neuanfangs, der vielen anderen Mut macht.

Vier Jahre hat er in der Einrichtung "fördern & wohnen" in Sachsenwaldau gelebt, seine Alkoholsucht bekämpft, kleine Schritte in die Normalität gewagt. Stichtag für sein neues Leben: 1. Mai. Dann wird der 58-Jährige in eine Wohngemeinschaft nach Glinde ziehen, sich bei der Glinder Tafel engagieren.

Dass er überhaupt die Kontrolle über sein Leben verloren hat, kann er sich heute selbst nicht mehr erklären. Nach dem Hauptschulabschluss hat der in Timmendorfer Strand geborene Norddeutsche zwei Lehren absolviert. Eine zum Einzelhandelskaufmann, eine zum Innendekorateur. Danach folgten zwölf Jahre Bundeswehr mit Stationen in Kanada, England, Kreta und den USA. Anschließend absolvierte er erfolgreich ein Studium der Betriebswirtschaftslehre, startete zunächst als Verkaufsleiter größerer Einzelhandelsunternehmen, dann als deren Geschäftsführer durch.

1999 dann ein Schreiben, das ihm den Boden unter den Füßen wegzieht: Die Kündigung. "Am Anfang war ich sicher, dass ich schnell etwas Neues finden würde. Doch nach 175 erfolglosen Bewerbungen und nur zwei Vorstellungsgesprächen verließ mich der Mut", erinnert sich Braasch. Erst tröstete ihn der Griff zur Bierflasche über den Kummer hinweg, später musste es Hochprozentiges sein. Freunde hatten sich da schon von ihm abgewandt.

Eine zunächst erfolgreich durchgestandene Entziehungskur endete jäh mit vier bis fünf Gläsern Wodka. Der Teufelskreis aus Rausch und Verzweiflung begann erneut. "Alkohol hilft nicht. Wenn du wieder klar bist, sind die Probleme immer noch da", weiß Braasch heute. Doch dieser Erkenntnis geht ein harter Kampf voraus.

Selbst sein Aufenthalt in Sachsenwaldau gestaltet sich zunächst nicht so rosig, wie es das positive Ende vermuten lässt. Anpassungsschwierigkeiten, Frust, erneut der Griff zur Flasche. "Die hatten es hier nicht leicht mit mir", gibt der Alkoholiker ehrlich zu. Sein besonderer Dank gilt dem Sozialpädagogen Jörn Höller, dem er im hauseigenen Café helfen durfte. Der Verkauf im Kiosk, das Bestellen der Ware, Küchenarbeit - all das half dem Suchtkranken zurück ins Leben. "Mir hat Struktur gefehlt, die hatte ich hier wieder."

Schließlich macht ihm 2006 ein schwerer Brand in Sachsenwaldau nicht nur sprichwörtlich Feuer unter dem Hintern. "Als unsere Reithalle brandte, waren alle Bewohner regelrecht panisch. Sie liefen dem Feuer entgegen, erkannten die Gefahr nicht. Das war der Punkt, an dem ich wusste, dass man hier professionell eingreifen muss", sagt Braasch. Von den Kameraden der Feuerwehr Ohe lässt er sich zusammen mit anderen Suchtkranken zum freiwilligen Helfer ausbilden. Sobald der Alarm ertönt, zieht er sich eine gelb-orange-farbene Warnweste über, holt Mitbewohner aus ihren Zimmern, beruhigt sie, bis die Feuerwehr eintrifft. Mittlerweile sind es rund 15 Helfer in Sachsenwaldau, die im Ernstfall wissen, wie man Menschenleben rettet.

Seinen wohl letzten Einsatz als Retter hatte Hans-Jürgen Braasch in der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März. Er, der einst auf sein eigenes Leben keinen Cent gewettet hätte, rettete das von vielen anderen. Er ortete den brennenden Ascheimer, suchte solange in stark verrauchten Zimmern, bis er sicher war: alle Bewohner sind in Sicherheit. Es war nicht vernünftig, seinen Einsatz bezahlte er mit einer Rauchvergiftung, und doch hatte er das Gefühl, etwas richtig Gutes getan zu haben. Im Mai wird ihm die Feuerwehr Ohe für seinen langjährigen Einsatz vor Ort danken und ihm Glück für sein neues Leben wünschen. Ein erfülltes Leben ohne Alkohol.