Reinbek. Eine Krebsdiagnose und der Zweite Weltkrieg - das hat auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Aber Dr. Almut Schneider, Ärztin in der Onkologischen Praxis am Krankenhaus St. Adolf-Stift, nimmt sich im Gespräch mit Patienten die Zeit für einen zweiten Blick.

Dabei entdeckt sie Zusammenhänge, die oft den Betroffenen selbst nicht bewusst sind. "Viele ältere Patienten haben beispielsweise panische Angst, in den Kernspintomografen geschoben zu werden. Lange habe ich nicht verstanden, warum das so ist", sagt die 45-Jährige. Erst nach zahlreichen Gesprächen wurde ihr klar: Dort ist es eng, laut und dunkel - Bedingungen, die bei Senioren Erinnerungen an lange Nächte in Luftschutzbunkern wecken.

Ihren älteren Patienten sei es gelungen, die Kriegserlebnisse in eine Art Kokon zu verpacken. Das Verdrängen klappe meist so lange, bis eine weitere Erschütterung die Schutzhülle aufbrechen lässt. "Eine Krebsdiagnose ist eine solche Situation", weiß Schneider. Nichts ist mehr, wie es ist. Panik, Angst, Verzweiflung bestimmen das Leben. Hinzu komme, dass die Kriegskinder von damals jetzt im Ruhestand, die eigenen Kinder groß sind. Jetzt beginnt die Zeit des Nachdenkens, Erinnerungen werden wach. "Viele Patienten quälen beispielsweise seit langem Schlafstörungen oder Bluthochdruck. Auf die Idee, dass das mit verdrängten Erinnerungen zu tun haben könnte, kommen sie nicht", sagt die Ärztin, die Menschen nicht nur als Herrn X aus Y mit der Krankheit Z, sondern als Ganzes erfassen möchte.

Oft geben schon die Personalien Auskunft über ein mögliches Problem. Jahrgang 1943, geboren in Hamburg - bei diesen Eckdaten wird Almut Schneider hellhörig. "Vor mir sitzen Menschen, die im Krieg Kinder waren. Sie sind durch Gewalt, Hunger, Vertreibung, Bombardierung und den möglichen Verlust des Vaters traumatisiert." In den Nachkriegswirren habe sich jedoch niemand um die Seelen der Kinder gekümmert. "Das wächst sich raus, das wird schon wieder", habe man nach dem Krieg gedacht. Kinderpsychologen, Seelsorger, Traumaspezialisten, all das gab es damals nicht. "Die Kinder wurden schnell erwachsen, mussten sich um Geschwister kümmern oder mitarbeiten. Heute weiß man, wie wichtig die Aufarbeitung der Erlebnisse ist", sagt Schneider. Mit ihrem Ansatz der historischen Anamnese ist sie unter ihren Kollegen eine Exotin. Auch bei Patienten löst ihr Bemühen zunächst oft Erstaunen aus. Dass sich plötzlich jemand für ihre Kindheit interessiert, das können viele Senioren, die an Krebs erkrankt sind, kaum glauben. Schneiders ausführliches Erstgespräch ist jedoch keinesfalls uneigennützig. Sie selbst gewinnt zahlreiche Erkenntnisse. "Wenn ich weiß, dass ein Patient den Kernspintomografen unbewusst mit Nächten im Bunker in Verbindung bringt, fällt es mir leichter, geduldig und verständnisvoll zu bleiben."

Gezwungen werde aber niemand, über seine Erlebnisse zu sprechen. Wer aber erzählen möchte, findet in Schneider nicht nur eine kompetente Ärztin, sondern auch eine gute Zuhörerin. "Denn gerade bei Krebspatienten kommt die Erinnerung manchmal mit Macht zurück", sagt die Ärztin.

* Wer sich für das Thema Kindheit im Krieg und die Auswirkungen auf das eigene Leben interessiert, ist heute Abend bei einem Vortrag von Simone Bode (siehe Interview im Kasten) willkommen. Die Autorin aus Köln liest ab 19 Uhr in der Nathan-Söderblom-Kirche, Berliner Straße 4, aus ihrem Buch "Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation" (erschienen im März 2009 im Verlag Klett-Cotta).