Reinbek. 16. November 1982, 13.02 Uhr: Dunkle Wolken hängen über dem herbstlichen Sachsenwald, seit Stunden nieselt Dauerregen durch die kahlen Bäume in Friedrichsruh. Ein einziger Spaziergänger läuft scheinbar ziellos und im Zickzack durch den Wald.

Das RAF-Mitglied kommt möglicherweise noch vor Weihnachten nach 26 Jahren im Gefängnis wieder frei.

Er ist jung, schlank, fast dürr, trägt einen dunkelblau-rot gestreiften Wollpullover und eine dunkle Hose. Eine unscheinbare Erscheinung.

Doch auf ihn haben sie gewartet. Drei Wochen lang, rund um die Uhr, in drei Erdlöchern versteckt. Als sich der junge Mann suchend umschaut und niederkniet, schlagen sie zu. Mehrere Polizeibeamte einer Spezialeinheit aus Eutin überwältigen den Spaziergänger nur 1000 Meter vom Sägewerk in Friedrichsruh entfernt. Es ist Christian Klar (30), Kopf der Roten Armee Fraktion (RAF) und einer der meistgesuchten Männer der Zeit. Immer wieder ist Klar der Polizei in den vergangenen Jahren entkommen.

Um kurz nach 13 Uhr am 16. November 1982 geht jedoch plötzlich alles ganz schnell. Mehr als 40 Polizeiwagen rasen durch den Sachsenwald, Hubschrauber kreisen über den Baumwipfeln. Ganz Friedrichsruh ist abgeschirmt. Keiner kommt raus, keiner rein. Der Kieler Innen- und Justizminister Karl Eduard Claussen (CDU) bestätigt später, dass an die 350 Beamte aus Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen im Einsatz waren.

"Ich wurde am frühen Nachmittag zum Polizeirevier an den Reinbeker Bahnhof gerufen. Die Kripo war damals noch im Rathaus untergebracht", erinnert sich Klaus-Jörn Dethlefs. Der heutige Kriminalhauptkommissar ist 1982 erst seit wenigen Monaten in der Stadt. Seinen Arbeitsalltag bestimmen Einbrüche, geklaute Autos oder hin und wieder eine ungeklärte Brandursache. Terrorismus gibt es nur auf den RAF-Fahndungsplakaten, die im Revier hängen, oder als Spitzenmeldung abends in der Tagesschau. Doch dann steht der damals 24-Jährige plötzlich einem Top-Terroristen gegenüber.

"Ein Kollege bat mich, den vermutlich gefälschten Pass eines Ausländers zu untersuchen", sagt Dethlefs. Auf dem Polizeirevier angekommen, dämmert es ihm, dass es sich nicht um einen kleinen Verbrecher handeln kann. Beamte des Sondereinsatzkommandos und Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes besetzen die Flure und Gänge, erste Journalisten haben Wind von der Großaktion bekommen, belagern das Polizeirevier. Schnell machen die Experten dem jungen Kripomann klar: Das hier ist eine Nummer zu groß für dich. Trotzdem darf sich Dethlefs den Pass des Gefangenen anschauen. Er ist auf einen Dänen namens Martin Barbarossa Wymand ausgestellt und tatsächlich professionell gefälscht. Später geht der junge Polizist sogar zur Zelle im Keller, in der der Gefangene sitzt. Jetzt erstmals fällt ein Name: Christian Klar. "Er saß ganz ruhig auf der Pritsche. Ganz ehrlich: Ich hätte ihn nicht erkannt, selbst wenn er direkt an mir vorbeigegangen wäre", sagt der 50-Jährige im Rückblick. Schmal, fast dürr scheint der Terrorist, er habe kaum Ähnlichkeit mit dem jungen Mann auf den Fahndungsplakaten gehabt. Experten wundern sich später darüber, dass Klar so leicht in die Falle tappte. Ihre Vermutung: Er war nach jahrelanger Flucht körperlich am Ende.

Immer mehr Journalisten aus ganz Deutschland bitten währenddessen an dem Dienstagnachmittag um Einlass ins Reinbeker Polizeirevier. Die Nachricht von der Festnahme des Top-Terroristen hatte sich in Windeseile herumgesprochen. "Die Presseleute mussten im Dauerregen ausharren. Man hat sie zunächst nicht reingelassen. Als sie später im Gebäude fotografieren wollten, mussten sie sehr lange warten, bis ihre beschlagenen Objektive wieder klar waren", erzählt Dethlefs. Kleine Erinnerungsfetzen an einen Tag, den der besonnene Mann mit der runden Brille als "absolut aufregend" bezeichnet. Was die Wartenden nicht wissen: Als sich ihnen endlich die Türen öffnen, ist Christian Klar längst durch einen Hinterausgang abgeführt worden und auf dem Weg ins Hamburger Untersuchungsgefängnis. 1985 wird er wegen neunfachen, gemeinschaftlich begangenen Mordes und elffachen Mordversuches zu lebenslanger Haft verurteilt.

Nach und nach erfährt auch die Presse die ganze Wahrheit. Das Bundeskriminalamt hatte bei der Festnahme der Terroristinnen Adelheid Schulz und Brigitte Mohnhaupt eine Woche zuvor Unterlagen gefunden, die auf ein Waffendepot der RAF im Sachsenwald schließen ließen. Daraufhin wurden Erdlöcher als Versteck gegraben, Beobachtungskameras im Schloss der Familie von Bismarck angebracht und ein Standquartier im Sägewerk in Friedrichsruh eingerichtet. Eine geheime Mission, in die nur wenige eingeweiht waren. "Selbst wir wussten absolut nichts", betont Klaus-Jörn Dethlefs.

Am 16. November war Christian Klar mit einem grünen Damenfahrrad zur S-Bahn-Station Friedrichsruh gefahren. Er hatte eine kleine Gartenschaufel bei sich, ein Fernglas, Stadtpläne von Hamburg und den Stadtteilen Harburg und Wilhelmsburg. Bewaffnet war er mit einer durchgeladenen und entsicherten Automatikpistole vom Typ "Colt Commander". In seinen Taschen fanden die Beamten 465 Deutsche Mark, die aus einem Überfall in Bochum stammten. Zusammen mit mehreren Revolvern, Maschinenpistolen und gefälschten Ausweisen aus dem Waffen-Depot war die Beweislage erdrückend. Ohne Widerstand ließ sich Christian Klar im Sachsenwald festnehmen. Sein Leben hinter Gittern begann in der Polizeistation in Reinbek.

"Er saß ganz ruhig auf der Pritsche. Ich hätte ihn nicht erkannt, selbst wenn er direkt an mir vorbeigegangen wäre." Klaus-Jörn Dethlefs, Kriminalhauptkommissar und Augenzeuge