Der Geschichte auf der Spur

Späte Würdigung für russische Kriegsgefangene

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Undine Gerullis
Diesen holländischen Fremdarbeitern im Lager Wiesenfeld ging es viel besser als den russischen Zwangsarbeitern

Diesen holländischen Fremdarbeitern im Lager Wiesenfeld ging es viel besser als den russischen Zwangsarbeitern

Foto: Portvlieet

Glinde. Im Lager Wiesenfeld soll es etwa 500 russische Zwangsarbeiter gegeben haben.

Glinde.  Hinter jeder Zahl verbirgt sich ein Menschenleben. Der Glinder Archivar Dr. Carsten Walczok und die Hobbyhistoriker Heinz Juhre und Hans-Jürgen Preuß von der Geschichtswerkstatt Zwangsarbeiterlager Wiesenfeld sind dabei, eine Datenbank über die Zahl der russischen Zwangsarbeiter in Glinde zu erstellen.

Nichts erinnert an russische Zwangsarbeiter

„Die Russen wurden bislang zu wenig beachtet“, sagt Preuß. Nirgends gebe es ein Denkmal, eine Tafel oder ein Ehrenfeld, das an ihr Schicksal erinnere. Dabei hatten es die russischen Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg besonders schwer. „Sie waren in der Hierarchie des Lagers ganz unten, wurden am schlechtesten behandelt, waren Zwangsarbeiter zweiter Klasse“, sagt Juhre.

Viele Westeuropäer waren freiwillig da

Im Gegensatz zu den Westeuropäern – Holländer, Belgier und Franzosen –, von denen viele freiwillig zum Arbeiten ins Kurbelwellenwerk der Firma Krupp nach Glinde kamen, wurden die Osteuropäer zum Arbeiten gezwungen. „Sie bekamen wenig zu essen, froren in den Baracken, ihre Gesundheitsversorgung war miserabel. Sie wurden streng bewacht und waren isoliert von den anderen“, sagt Juhre.

33 von 500 Russen sind bekannt

33 Namen sind jetzt in der Datenbank erfasst. „Ein Anfang, mehr nicht“, sagt Walczok. „Wir gehen davon aus, dass es viel mehr waren – mindestens 500 russische Gefangene.“ Hinter den 33 Namen verstecken sich junge, russische Soldaten, viele gerade mal 20 Jahre alt. Deutsche hatten sie während des Russlandfeldzuges ab Ende 1941 gefangen genommen und zum Arbeiten nach Deutschland verschleppt. 1942 nahm das Glinder Lager seinen Betrieb auf.

Sie waren für niedere Arbeiten da

„Die jungen Russen kamen hier schon völlig ausgemergelt und entkräftet an, mussten niedere Arbeiten erledigen. Viele sind kurz danach entkräftet verstorben“, sagt Walczok. Die Namen der 33 Soldaten stammen aus Personalbögen der Gedenkstätte Sandbostel bei Bremen. Von dem sogenannten Stammlager wurden damals die Gefangenen in andere Lager im Norden verteilt.

Kriegsgefangene verhungerten

Dass es viel mehr russische Kriegsgefangene in Glinde gab, bestätigt auch eine Zeugenaussage von 1946. Der ehemalige polnische Zwangsarbeiter Stanislaw Wlodarczyk berichtete damals den Briten: „1944 kam eine Gruppe von 120 Russen zu uns. Es waren Kriegsgefangene. Weil sie nichts zu essen bekamen und sehr geschwächt waren, konnten sie nicht arbeiten. Sie fielen oft um, dann wurden sie von den Wächtern mit dem Gewehrkolben zu Tode geprügelt. Nach einem halben Jahr waren von den 120 Russen noch sechs am Leben.“

Von ihnen fehlt jede Spur

Von diesen 120 Russen fehlt jede Spur. Sie tauchen in keinem Register des Glinder Standesamtes oder der Friedhofsverwaltung in Reinbek oder Bergedorf auf. Von einem Massengrab in Glinde und Umgebung ist nichts bekannt.

Das müsse nichts bedeuten, weiß Juhre aus Erfahrung. „Das Lager war ein Staat im Staate, hatte sein eigenes Archiv mit eigenen Listen. Die wurden Ende des Krieges vernichtet.“ Seit 18 Jahren forscht er zur düsteren Geschichte Glindes: „Jahrzehntelang hieß es immer, es wurde im Glinder Lager niemand umgebracht, es gibt keine Einträge im Sterberegister der Stadt. Doch 1988, über 43 Jahre nach Kriegsende, wurde die Exekution von zwei Polen bekannt. Die beiden wurden nach einem Schauprozess im Lager erhängt, weil sie Eier gestohlen hatten.“

Historiker-Team hofft auf Zeitzeugen

Solange können die drei nicht warten, um das Schicksal der 120 Russen zu klären: „Uns läuft die Zeit davon. Was wir brauchen, sind Aussagen von Zeitzeugen, von denen es noch einige wenige gibt. Und wir brauchen Dokumente“, sagt Walczok. Sie sind überzeugt, dass sie gab. „Die deutsche Seele dokumentiert nun einmal gern“, sagt Juhre. Und manchmal hilft auch der Zufall weiter: Im Frühjahr dieses Jahres stieß der Cousin eines ehemaligen Fremdarbeiters aus den Niederlanden auf dem Dachboden auf eine Zigarrenkiste. Darin fand er viele Fotos aus dem Kurbelwellenwerk, wo sein Cousin freiwillig gearbeitet hatte. Kurz vor Ende des Krieges, im April 1945, verstarb er in Glinde. Der jetzt betagte Cousin meldete sich, um herauszufinden, wo der Verstorbene begraben ist. Wie sich herausstellte, wurde der Niederländer 1945 nach Lübeck gebracht, wo es ein Ehrenfeld für holländische Fremdarbeiter gibt. „Das kannten wir vorher auch nicht. Wir wünschen uns etwas ähnliches für die russischen Zwangsarbeiter, unabhängig davon, ob wir deren Schicksal klären“, sagt Preuß.

Wer bei der Spurensuche helfen kann, meldet sich bei Heinz Juhre unter Telefon (040) 7 10 54 98.

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