Von Susanne Tamm

Glinde.
Als Aalbert Bussem (69) nach dem Tod seiner Mutter im November 2014 ihren Nachlass sortierte, kam er ins Staunen. In ihrer Bibel fand er einen Brief seines Onkels, kleine Schwarz-Weiß-Fotografien mit gezacktem Rand und Werksausweise mit seinem Konterfei aus den Jahren 1943 bis 1945. "Fräser" steht dort als Beruf. Offenbar war sein Onkel Aalbert van Prooijen, der wenige Monate vor seiner Geburt gestorben und nach dem er benannt worden war, Zwangsarbeiter in Glinde gewesen. Und außer seiner Mutter hatte wohl niemand davon gewusst.

"Sie hat nie darüber gesprochen", erzählte der 69-jährige Niederländer gestern. "Unglaublich! Und sehr schade." Er fing sofort an, nachzuforschen und stieß im Internet auf die Geschichtswerkstatt Wiesenfeld. Kurzum beschlossen er und sein ebenso ahnungsloser Cousin Jan Nagtegaal (70), nach Glinde zu reisen, um der Vergangenheit ihres Onkels nachzuspüren. Hans-Uwe Preuß und Claudia Seneberg von der Geschichtswerkstatt führten sie durch Glinde, heute werden sie von Bürgervorsteher Rolf Budde im Rathaus empfangen.

Heinz Juhre, Glinder Hobby-Stadtchronist, traf die beiden und ihre Frauen Toos Bussem und Anny Nagtegaal gestern an der Stolperschwelle am Holstenkamp. Jan Nagtegaal sagte: "Auch ich wusste nur, dass er schon mit 21 Jahren gestorben ist." Vermutlich habe er sich bereits in Glinde mit Tuberkulose infiziert.

Heinz Juhre berichtete über das Lager: "Etwa 3000 Menschen wohnten 1944 hier. An dieser Stelle wurden Schauhinrichtungen an Polen aus Hamburg abgehalten - um die Moral zu stärken." Heute ist von den bis zu 36 Baracken nichts mehr da, die letzte wurde 1960 abgerissen. "Es war aber kein Konzentrationslager, sondern ein Arbeitslager, das von den Krupp-Werken für das Kurbelwellenwerk Hamburg betrieben wurde." Je nach Nation wurden die Arbeiter unterschiedlich behandelt. "Am schlimmsten traf es die sogenannten Badoglio-Italiener, nachdem sich Italien 1943 vom Faschismus abgewendet hatte. Es gab aber auch einen Franzosen, der jeden morgen zum Bahnhof gebracht wurde. Von dort fuhr er mit der Bahn zur Arbeit in einer Bank an der Alster." Doch auch er musste nach seinem Arbeitstag zurück ins Lager, betonte Claudia Seneberg.

Bussem erzählte aus dem Brief des Onkels, in dem er vor allem von Hunger, aber auch von Langeweile schrieb, weil die Produktion seit Anfang 1945 heruntergefahren worden war. Die beiden Niederländer interessierten sich sehr für die Fotos eines anderen niederländischen Zwangsarbeiters, Abraham Poortvliet. "Vielleicht hat er meinen Onkel gekannt", sagte Bussem. Auf einem Plan entdeckten die Cousins, wo die Baracke "18" ihres Onkels gestanden hatte. "Wir sind froh, dass Sie nach so langer Zeit noch den Weg hierher gefunden haben", sagte Juhre. Schon 1980 habe es geheißen: "Lass das doch ruhen." Darüber wäre das Lager fast in Vergessenheit geraten.